Chapter 29

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Cause even underneath the waves
I'll be holding on to you
And even if you slip away
I'll be there to fall into the dark
To chase your heart
-„Find my way back", Eric Arjes

Christina

In den nächsten Tagen bleibe ich im Bett. Ich lasse mein Handy und meinen Laptop ausgeschaltet, weil ich einfach mit niemandem sprechen will. Nur Vica kommt hin und wieder vorbei, um nach mir zu schauen und dafür zu sorgen, dass ich mir wenigstens einen halben Joghurt runterwürge, wenn ich schon das ganze Take-Out nicht anrühre, das sie mitbringt, damit ich zumindest alle zwei Tage mal etwas esse. Ich schäme mich. Ich weiß, dass es ein völlig irrationaler Gedanke ist, aber ich schäme mich dafür, dass ich so naiv war und nicht früher erkannt habe, wie Evgeny wirklich ist. Luca erzähle ich, dass ich nicht telefonieren kann, weil mein Handylautsprecher den Geist aufgegeben hat und ich erst einen neuen besorgen müsste. Er soll nicht hören wie kratzig meine Stimme immer noch klingt. Verständnisvoll wie Luca nun mal ist, hat er mir sofort versichert, dass das kein Problem ist, was letzten Endes dafür sorgt, dass ich ein noch schlechteres Gewissen bekomme als ich eh schon habe. 

Am Mittwoch schaffe ich es endlich mich aufzuraffen und meine Wohnung ein wenig aufzuräumen. Ich staubsauge, spüle ab und sammle all die fast vollen Essensverpackungen und Pizzakartons zusammen, die sich über die letzten vier Tage in meinem Wohnzimmer angesammelt haben. Abwägend sehe ich auf den vollen Müllsack in meiner Hand. Alles in mir sträubt sich davor, nach draußen zu gehen aber nachdem ich auf Ratten in meiner Wohnung noch weniger Lust habe, ergebe ich mich seufzend. Ich will nicht, dass mich jemand so sieht, aber auf dem Weg zu den Mülltonnen wird mir hoffentlich niemand begegnen. Also schnappe ich mir einen Cardigan von der Stuhllehne - den ich eigentlich schon längst wieder in meinen Kleiderschrank hängen wollte - und mache mich auf den Weg zur Haustür. Wie so oft in den letzten Tagen meide ich den Spiegel im Flur. Ich will die Spuren auf meiner Haut nicht sehen, die Evgenys Hände dort hinterlassen haben. Die Blutergüsse auf meinem Hals, die sich mittlerweile lila und blau verfärbt haben. Schluckend konzentriere ich mich darauf, anständig in meine Sneaker zu schlüpfen, während ich mit aller Gewalt die Erinnerungen zurückdränge. Schwungvoller als geplant reiße ich die Tür auf...und bleibe wie versteinert stehen. Das Herz rutscht mir in die Hose. Da steht Luca. Er starrt mich genauso perplex an wie ich ihn, die Hand mit dem Ersatzschlüssel, den ich ihm vor Wochen gegeben habe, auf halbem Weg zum Schloss erstarrt. Shit. Reflexartig mache ich einen Satz zurück in die Wohnung und schlage die Tür vor seiner Nase wieder zu. Völlig überrumpelt lehne ich mich mit dem Rücken gegen die Tür, die Augen fest zusammengekniffen. Verdammt, verdammt, verdammt. Er sollte nicht hier sein. Er darf mich auf keinen Fall so sehen. „Christina?", erklingt Lucas gedämpfte Stimme von der anderen Seite der Tür. „Christina bitte, mach die Tür auf. Ich mach mir Sorgen um dich."
„Du solltest doch erst am Freitag herkommen", murmle ich mehr zu mir selbst, aber Luca scheint es dennoch zu hören. "Du hast auf keine meiner Nachrichten oder Anrufe mehr reagiert. Andrzej wusste auch nichts, da musste ich einfach herkommen." Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen und das schlechte Gewissen ist auf einmal wieder da. Er fährt extra von der Schweiz aus hierher, wofür er wahrscheinlich sogar irgendwelche wichtigen Termine abgesagt hat, weil ich nicht mit ihm rede und dann schlage ich ihm auch noch die Tür vor der Nase zu. Nein, das hat er nicht verdient. Langsam drehe ich mich um, lehne die Stirn gegen das kühle Holz der Tür und atme tief durch. Dann greife ich mit zittrigen Händen nach der Klinke und öffne die Tür gerade so weit, dass ich Luca ins Gesicht schauen kann. "Christina..." Ich will stark sein und mir nichts anmerken lassen, aber meinen Namen aus seinem Mund zu hören gibt mir den Rest. Tief aus meiner Kehle befreit sich ein Schluchzen und zum ersten Mal seit der Probe am Samstag lasse ich meinen Tränen freien Lauf. Es ist einfach zu viel. Die Begegnungen mit Evgeny, die räumliche Trennung von Luca, das anstrengende Training, sein Auftauchen hier. Einfach alles. Ohne weiteren Widerstand lasse ich zu, dass Luca die Tür ganz aufdrückt und sich in die Wohnung schiebt. Innerhalb weniger Sekunden ist er bei mir, schlingt seine Arme um mich und wie als hätte sich eine Schleuse geöffnet breche ich in seinen Armen zusammen. Hilflos klammere ich mich an ihn und vergrabe das Gesicht in seiner Brust, als könnte er all das wieder richten, dass Evgeny in meinem Inneren zerrissen hat. Irgendwann schiebt er vorsichtig einen Arm unter meine Beine und trägt mich ins Wohnzimmer, wo er sich mit mir auf dem Schoß auf der Couch niederlässt und mich einfach festhält. "Shh, ist doch alles gut..." Lucas Hände streichen sanft über meinen Rücken, während er leise beruhigende Worte in mein Ohr flüstert, von denen ich nur einen Teil verstehe, weil ich so sehr schluchze. Ich verliere jegliches Zeitgefühl. Ich habe keine Ahnung wie lange wir so dasitzen aber irgendwann habe ich mich einigermaßen beruhigt und meine Tränen versiegen langsam. Leise schniefend liege ich auf Luca, den Kopf an seinen Oberkörper gekuschelt und lausche einen Moment lang einfach nur seinem Herzschlag. Immer noch fahren seine Hände über meinen Körper, zeichnen Muster auf meine verspannten Muskeln, während ich tief seinen Geruch einatme. "Er hat mich angegriffen...", wispere ich auf einmal. Luca erstarrt mitten in der Bewegung. "Was?" Seine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern, als er mich entsetzt von sich wegdrückt, damit er mir ins Gesicht sehen kann. Im nächsten Augenblick fällt sein Blick auf meinen Hals und er zieht scharf die Luft ein. Wie in Trance hebt er die Hand, berührt meine Haut dort und ich zucke zusammen, noch bevor seine Finger auf einen blauen Fleck stoßen. Ein Muskel in seinem Gesicht zuckt, als er die Zähne fest aufeinanderbeißt aber ich lasse ihn gar nicht zu Wort kommen. Mein Herz stolpert vor sich hin, aber ich spreche weiter, bevor mich der Mut verlässt. Und dann erzähle ich Luca alles. Ich rede und rede und mit jedem Wort, das meinen Mund verlässt, wird das Gewicht auf meinen Schultern ein bisschen weniger. Als ich geendet habe, ist es eine Weile lang still. Alles was ich hören kann ich Lucas angestrengten Atem und den rasenden Herzschlag in seiner Brust. "Du hast gesagt Andrzej passt auf dich auf...", presst er irgendwann hervor, während seine Finger immer noch über meinen Hals streichen. Ich schüttle sanft den Kopf. "Es ist nicht Andrzejs Schuld, Luca." Er schließt die Augen und lehnt seine Stirn gegen meine. "Und deine auch nicht", füge ich leise hinzu. Luca atmet lange und hörbar aus, dann greift er nach meiner Hand und verschränkt unsere Finger miteinander. "Du hättest mir das schon viel früher sagen sollen", setzt er mit ernster Stimme an. "Du hättest mir davon erzählen sollen." Verzweifelt fährt er sich mit der freien Hand übers Gesicht. "Ich...ich hab dich dazu überredet, mitzumachen. Ich hätte dich niemals mit ihm allein lassen dürfen." Er sieht mich schuldbewusst an und der gebrochene Ausdruck in seinen Augen lässt mein Herz kurz aussetzen. "Wieso hast du mir nichts gesagt?", flüstert er erstickt. Ich sehe hinunter auf unsere verschlungenen Finger und streiche sanft mit dem Daumen über seine Hand. "Ich...ich hatte einfach Angst davor wie du reagieren würdest. Außerdem wollte ich stark sein und dir zeigen, dass du dich nicht in mir getäuscht hast", gestehe ich kaum hörbar. Ich zucke hilflos die Schultern. "Bisher ging ja auch alles gut, aber der Übergriff am Samstag...Er war schon immer etwas aufbrausend, aber so...? Das...er hat mich noch nie angegriffen, Luca. Ich hatte Angst vor ihm, ja, aber dass er so weit gehen würde..." Meine Stimme bricht und ich verstumme, weil ich sonst wohl wieder angefangen hätte zu weinen. Mit schimmernden Augen streicht Luca mir das Haar aus dem Gesicht und hinter die Ohren. "Es tut mir so leid, Christina", flüstert er betroffen. Er sieht aus als will er noch etwas sagen, aber er presst die Lippen fest aufeinander, als würde er sich mit aller Kraft davon abhalten. Stattdessen zieht er mich noch näher zu sich und lehnt sich dann vorsichtig zurück, bis er mit dem Rücken auf der Couch liegt, mit mir auf seiner Brust. Eine Weile lang liegen wir einfach so da. Ich bin kurz davor in eine wundervoll heile Traumwelt abzutauchen, als Luca sanft mit seinen Fingern durch meine Haare fährt. "Christina", murmelt er leise und ich höre den amüsierten Unterton in seiner Stimme. "Was ist denn?", nuschle ich in sein Shirt, ohne mich auch nur einen Millimeter zu bewegen. "Du bist wirklich furchtbar süß wenn du müde bist und ich will echt nicht unhöflich sein, aber ich glaube es wäre am besten wenn du jetzt erstmal duschen gehst und erst danach ein bisschen schläfst." Jetzt hebe ich doch den Kopf von seiner Brust und blicke ihn mit hochgezogener Augenbraue an. "Willst du damit sagen, dass ich stinke?"
"Nein!" Er schenkt mir ein unschuldiges Grinsen. "Okay, ein bisschen vielleicht." 

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