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Als ich aufsehe, stehen wir schon vor dem kleinen Haus meines Dads, welches an seine Kanzlei grenzt.
Ich erinnere mich noch gut daran, dass meine Mom am Anfang gar nicht begeistert war. Sie war der Meinung, dass man Arbeit und Privates strikt trennen sollte und hatte bereits geahnt, dass mein Dad, durch die nicht vorhandene räumliche Trennung, viel zu viel arbeiten wird.
Als Versöhnung hatte er sie das ganze Haus nach ihren Wünschen gestalten lassen und es kommt mir so vor, als würde sie gleich im Vorgarten stehen und mit meinem Dad über die richtige Anordnung der Blumen in den Beeten diskutieren.
Doch meine Mom starb vor 5 Jahren. Ich war gerade 18 geworden und es war mehr als hart mit ihrem Verlust klar zu kommen. Doch anders als in anderen Familien hatte der Verlust meiner Mom Dad, Dan und mich zusammen geschweißt und jeder war für den anderen da gewesen.
Josy klingelt und Sekunden später öffnet mein Dad die Tür. Er sieht genauso aus, wie in meines Erinnerung.
Er ist groß und breit, seine Augen sind blau. Obwohl das Strahlen darin nach dem Tod meiner Mom weniger wurde ist es nie ganz erloschen. Seine Haare sind etwas grauer geworden, aber die kurze Frisur ist geblieben. Sein Bart ist sorgfältig abrasiert.
Als er mich erblickt glitzern Tränen in seinen Augen und ich werfe mich in seine Arme.
Seine Statur erinnert an einen Schrank und in seinen Armen kam ich mir schon immer beschützt vor. Das hat sich nicht verändert. Auch mir laufen Tränen die Wangen herunter.
„Oh Daddy! Ich hab dich so sehr vermisst.", schluchze ich an seiner Brust.
Er schnieft leicht und sagt dann mit seiner tiefen rauen Stimme: „Ich dich auch, mein Schatz. Ich dich auch."
Nach einer gefühlten Ewigkeit löse ich mich von ihm und wische meine Tränen beiseite, während Dad Josy und Jay begrüßt. Er hebt Lilly aus dem Kinderwagen und sie öffnet ihre Augen. Den ganzen Weg über hat sie tief und fest geschlafen, doch jetzt greift sie lächelnd nach der Nase meines Dads und er drückt sie lachend an sich. Mit einer Hand hält er Lilly und mit der anderen zieht er mich ins Haus und auf das gemütliche Sofa im Wohnzimmer.
Ich sehe mich um und bemerke, dass alles genauso aussieht, wie ich es in Erinnerung habe. Als wäre ich nie weg gewesen, denke ich seufzend.
Jay trägt den Kinderwagen in den Flur und setzte sich dann mit Josy zu uns.
Mein Dad will unbedingt wissen, wie es mir ergangen ist, obwohl wir in den letzten Jahren natürlich oft telefoniert haben.
Als ich ihm das sagen winkt er direkt ab: „Das kann man ja wohl nicht vergleichen! Ich will alles bis ins kleinste Detail wissen." Und so erzähle ich ihm von der Wohnung, meiner Freundschaft zu Jay und ein paar anderen Freunden, meiner Ausbildung und meinem Job bei Marko.
„Du hast dir dein eigenes Leben aufgebaut und du wirkst sehr glücklich. So ungern ich es auch sage, vielleicht war dieser Abstecher nach Carboa nötig.", sagt er schließlich.
„Dad, so sehr du dich auch dagegen sträubst es zu glauben. Es ist nicht nur ein Abstecher. Ich lebe dort und ich werde auch weiterhin dort leben.", versuche ich ihm klar zu machen.
„Na das werden wir nochmal sehen.", murmelt er und drückt mich nochmal an sich.
Er unterhält sich auch mit Jay, den er scheinbar noch in guter Erinnerung hat.
Während Josy und ich mit Lilly spielen, höre ich wie er sich bei Jay dafür bedankt, was er für mich getan hat und ich muss lächeln. Nach zwei Jahren, in denen ich den Kontakt zu meiner Familie aufs niedrigste reduziert habe, sind sie mir nicht böse, sondern lassen alles so normal erscheinen, als wäre nie etwas gewesen. Auch wenn dem ganz und gar nicht so ist, genieße ich den Augenblick.
Als Dan kommt, setzen wir uns alle an den großen Esstisch und mein Dad geht in die Küche, um das vorbereitete Essen zuzubereiten. Jay hilft ihm dabei und ich freue mich, dass die beiden sich noch so gut verstehen.
„Bereust du es hergekommen zu sein?", fragt Josy in meine Gedanke hinein.
Erschrocken sehe ich sie an und überlege einen Moment bevor ich ehrlich antworte: „Nein. Ich bin froh euch alle wieder zu sehen. Die nächsten Tage werden anstrengend und ich mag mir gar nicht vorstellen, wie die erste Begegnung nach der ganzen Zeit mit Thomas und Evelyn sein wird, aber momentan überwiegt die Freude bei meiner Familie zu sein."
„Wir sind auch froh, dass du hier bist. Wenn ich Dan sehe, wie er dich so stolz und glücklich ansieht, bin ich mir sicher, dass das die einzig richtige Entscheidung war, dich zu überreden.", sagt sie lächelnd und sieht Dan zärtlich an, der mit Lilly auf dem Teppich liegt und herumalbert.
„Ist es sehr schlimm, dass wir morgen zu Nick und Maggie gehen?", fragt Josy weiter.
„Naja, ich weiß nicht wie sie auf mich reagieren werden. Es weiß hier ja niemand was passiert ist und sie können sicher nicht verstehen warum ich gegangen bin.", versuche ich zu erklären.
„Mach dir darüber keine Gedanken, Amy. Du warst immer wie eine Tochter für die beiden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sauer auf dich sind, weil du nicht mehr mit Tommy zusammen bist. Wir sind morgen ja alle da und wenn es dir zuviel wird, musst du nur bescheid sagen. Ich weiß zwar auch nicht was passiert ist, aber du wirst gute Gründe gehabt haben. Vielleicht bist du ja irgendwann so weit und erzählst es uns. Aber wir sind immer für dich da, egal was passiert. Vergiss das nicht!", redet sie beruhigend auf mich ein und ich drücke sie fest an mich und bedanke mich leise bei ihr.
„Essen!", ruft mein Dad in dem Moment und bringt mit Jay allerhand Töpfe und Schalen zum Tisch.
„Hast du das gekocht, Dad?", frage ich überrascht und er nickt stolz.
„Marinierte Putensteaks auf Reis", erklärt er stolz und füllt jedem etwas auf den Teller.
„Mhm, lecker.", schmatzt Dan genüsslich und Josy schlägt ihm leicht gegen die Schulter.
„Man redet nicht mit vollem Mund und hör auf zu schmatzen, bevor unsere Tochter sich das irgendwann mal von dir abgucken kann!", schimpft sie leise und Dan drückt ihr schmunzelnd einen Kuss auf die Wange. Seufzend fängt auch sie an zu essen und wir müssen Dan recht geben. Das Essen schmeckt super.

***

„Pete, bevor ich es vergesse, kannst du morgen Abend auf Lilly aufpassen?", fragt Josy beim Abräumen.
„Sicher, kein Problem.", sagt er freudestrahlend. Dan sieht Josy fragend an.
„Ty und Olli wollen sich morgen mit uns vieren in Nicks Kneipe treffen.", erklärt sie. Dan sieht erstaunt zu mir und ich zucke nur mit dem Schultern.
Mit einem Glas Rotwein setzten wir uns aufs Sofa und unterhalten uns noch weiter. Schließlich kommt das Gespräch auf die Taufe und ich höre interessiert zu. Lilly soll von Edgar in der Kirche getauft werden. Danach wollen wir alle zu Susanne ins Restaurant.
„Su war sofort begeistert von der Idee und hat schon mit der Planung angefangen. Ed hat uns vorgeschlagen, dass wir die Taufe vormittags machen, damit wir zum Mittagessen bei Su sein können.", erzählt Josy begeistert.
„Was ist mit dem Taufkleid?"
„Das hab ich schon fertig genäht.", antwortet sie und grinst verlegen, als ich sie überrascht ansehe.
„Ja, und es ist unglaublich schön geworden!", ergänzt Dan und gibt ihr einen Kuss. Lächelnd betrachte ich die beiden, die auch nach fast sieben Jahren Beziehung genauso verliebt sind wie am ersten Tag.
Das ist genau das, was ich mir immer gewünscht habe und noch vor drei Jahren habe ich mich an Ziel meiner Träume gesehen. Ich habe gedacht, genau den Menschen in Tommy gefunden zu haben den Josy und Dan im jeweils anderen gefunden haben. Doch ich habe mich geirrt und jetzt bin ich 24, Single und laut einigen Bekanntschaften beziehungsgestört. Aber wie soll man eine glückliche Beziehung anfangen, wenn man verlernt hat zu Vertrauen? Wie soll man sich wieder voll und ganz auf einen anderen Menschen einlassen, wenn die Angst vor dem Verrat schlimmer ist, als alles andere? Wie soll man überhaupt wieder daran glauben, dass irgendwo die große Liebe auf einen wartet? Für andere gibt es sie, wie man an Dan und Josy sieht, aber ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass mir auch so ein Glück gebührt.
„Die Geschenke!", ruft Jay plötzlich und sieht mich an. Ich ziehe die Päckchen aus meiner Tasche und verteile sie.
„Das haben wir euch mitgebracht.", lächle ich.
„Oh, wie schön! Dan, legst du mir die um?", fragt Josy ehrfürchtig und hält ihrem Freund die Kette hin. Er schließt den Verschluss im Nacken und nimmt die zweite und macht sie um Lillys Hals, die vergnügt damit spielt.
„Die sind wunderschön! Danke!", strahlt Josy uns an und gibt Jay und mir einen Kuss auf die Wange.
„Vielen Dank auch von mir. Das wird ab jetzt mein Kuli für die wichtigen Unterschriften.", grinst mein Dad.
Als Dan sein Geschenk ausgepackt hat, lacht er los.
„Daran erinnerst du dich noch?", fragt er und hält eine der Whiskeyflaschen hoch.
„Na klar! Du bist doch jetzt ein Daddy, also musst du auch ein richtiger Mann sein!", grinse ich und auch er bedankt sich.
Das Wiedersehen mit meinem Vater war toll, aber wir müssen uns langsam wieder auf den Weg machen.
Zum Haus von Dan, Josy und Lilly müssen wir die Straße bis zum Ende gehen und dann nach links. Am Ende der Straße bleibe ich stehen und sehe begeistert auf das Haus vor mir. Das Schwedenhäuschen ist zweistöckig, sehr breit und in einem dunkelrot gestrichen. Die Fenster und Balken strahlen sogar im Dunkeln der Nacht weiß. Wie bei dem Thompson-Haus ist ein großer Balkon über der Haustür.
„Amy", ruft Jay nach mir und ich beeile mich zu den anderen aufzuholen, die bereits um die Ecke verschwunden und fast da sind.

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