20 | Damoklesschwert

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Vergiss nie, dass ich es nicht vergesse.

Ich las den Satz wieder und wieder, bis er anfing, vor meinen Augen zu verschwimmen, die Buchstaben verblassten und die Welle über mich hereinbrach. Die drei Haie schoben sich vor mein inneres Augen, drehten sich im Kreis, während sie ihre Zähne wütend in der Schwanzflosse des jeweils anderen vergruben. Ich biss mir auf die Lippe bis ich Blut schmeckte. Der Eisengeschmack ließ mich wieder bitter in die Gegenwart zurückfinden. Jetzt erst merkte ich, dass ich zitterte und die Finger so fest um die Stuhllehne gekrallt hatte, dass meine Fingerknöchel weiß hervortraten. Ich starrte meine verkrampften Finger an, als gehörten sie zu jemand anderem. Schließlich gelang es mir, eine mentale Verbindung zu ihnen aufzubauen und einen Finger nach dem anderen zu lösen. Ich schloss die Augen und atmete einmal tief durch. 

„Maja?", ich schreckte auf und sah Dana mit gerunzelter Stirn und meiner Kaffeetasse in der Hand in der Türschwelle stehen. 

„Maja, ist alles in Ordnung?" Sie kam besorgt ein paar Schritte auf mich zu. „Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen." 

Ich schluckte, die Zunge klebte mir am Gaumen. 

„Alles in Ordnung", krächzte ich, „ich...mir war nur alles zu viel gerade. Daher fangen wir besser gleich an, dann wird es weniger." 

Ich beugte den Kopf und kramte hektisch die Blätter auf meinem Tisch zusammen, um sie in den Konferenzraum zu tragen. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Dana mich immer noch besorgt und mit gerunzelter Stirn musterte.

Wir gingen die Schriftsätze durch und nachdem ich zweimal meinen Kaffee verschüttet hatte und Dana sich mehrmals wiederholen musste, weil ich ihr nicht zugehört hatte, gelang es mir endlich, mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Das war schon immer einer meiner Ausflüchte gewesen: Arbeiten. Fokussiert. Konzentriert. Scheuklappen auf. Danas Sorgenfalte zwischen ihren Augenbrauen blieb die ganze Zeit über, aber sie fragte mich nicht weiter aus und ich war ihr dankbar dafür. Wir kannten uns erst seit einem Jahr, seit ich im Herbst nach Berlin gekommen war und doch hatte sie schon ein Gespür dafür, wann ich reden wollte und wann mir Schweigen lieber war. 

Als wir den letzten Schriftsatz der gegnerischen Partei auseinandergenommen hatten, stand ich auf und stapelte die Akten. „Puh, geschafft", sagte ich betont gut gelaunt, das Lächeln auf meinen Lippen fühlte sich künstlich an. Dana nickte nur. 

„Ich denke, ich schreibe heute noch die Klageerwiderung im Fall Vaßen und bereite schonmal die Sitzung für Mittwoch vor." 

Wieder nickte Dana nur. Gerade, als ich aus dem Konferenzraum treten wollte, um in mein Büro zu gehen, rief sie mich zurück. 

„Maja", ihre Stimme klang eindringlich, „was auch immer für eine Laus dir da über die Leber gelaufen ist...ich werde nicht nachhaken, weil ich weiß, dass du das nicht magst. Aber ich möchte, dass du weißt, dass du jederzeit mit mir darüber reden kannst, okay?" 

Ein salziges Gefühl stieg in mir auf und es gelang mir, die Tränen rechtzeitig zurückzuweisen, bevor sie meine Augen erreichten. Dana war so ein unglaublich einfühlsamer Mensch. In Momenten wie diesen erinnerte ich mich wieder daran, wie froh und dankbar ich war, sie als Freundin in Berlin gewonnen zu haben. 

„Danke Dana", sagte ich leise, „ich weiß es wirklich zu schätzen. Aber es ist halb so wild, es ist einfach nur ein blöder Tag heute."

Etwas betreten sah ich auf meine Füße, nahm Danas verständnisvolles Nicken im Augenwinkel wahr und lief dann in mein Büro. 

Als ich den Aktenstapel auf den Schreibtisch fallen ließ, sah ich mein Handy dort liegen. Zwei Nachrichten und ein verpasster Anruf von Max. Verdammt, ich hatte ihn völlig vergessen. Und das nach dieser grandiosen Nacht. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es bereits 15 Uhr am Nachmittag war. Ich hatte die Zeit völlig aus den Augen verloren. Mit zusammengepressten Lippen und einem schlechten Gewissen öffnete ich seine Nachrichten.

Sonne und Mond (Kontra K)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt