**23 | Zwei Jahre zuvor**

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Hallo ihr Lieben 💛  ich hoffe, ihr nehmt mir die Woche Abwesenheit nicht übel und freut euch über das neue Kapitel. Ab jetzt soll es hier (wie gewohnt) zweimal in der Woche weitergehen ☀️🌙

Ich muss euch vorwarnen: Es bleibt dramatisch traurig, aber da müssen wir durch. Die Leichtigkeit und Freude kommen aber bald wieder, versprochen 💛

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Ich drehte den Bleistift in meiner Hand. Vor mir lag ein weißes unbeschriebenes Blatt, das auf meine Notizen wartete. Blütenweiß. Fast schon provokant unschuldig. So farblich verschieden von dem tiefroten Blut, das vor einigen Monaten an mir geklebt hatte. Die kleine Motte...Ich biss die Zähne so fest zusammen, bis ich glaubte, dass meine unteren Backenzähen kurz davor waren, unter dem Druck wegzubrechen. 

So wie ich weggebrochen war. 

Ich hatte geweint. Ich hatte geschrien. Ich hatte auf mein Kopfkissen im Schlafzimmer eingeprügelt, bis ich kraftlos und schluchzend zusammengesunken war. Ich hatte neues Küchengeschirr gekauft und es dann in einem Anflug von Verzweiflung an die Wand geschmissen. Ich war in Sportschuhen durch den Wald gerannt, bis ich erbrechen musste. Ich hatte in einer Renovierungswut drei Wände unserer großen Penthouse Wohnung gestrichen, alle Schränke und Regale neu einsortiert, den edlen Holzboden in der gesamten Wohnung Zentimeter für Zentimeter eingeölt und mit einer Zahnbürste sämtliche Fugen zwischen den Fliesen im Bad und in der Küche geschrubbt. 

Und doch drehten sich meine Gedanken immer wieder in einem ewigen Karussell um ein und dasselbe: Meine Motte. Mein Verlust. Ich ertrug die mitleidigen Blicke meiner besten Freundin Ina ebenso wenig wie den Kummer meiner Eltern, die um ihr Enkelkind trauerten, von dessen Existenz sie vorher gar nichts gewusst hatten. Also fuhr ich -den Protesten der Partner der Kanzlei zum Trotz- wieder zur Arbeit, arbeitete eine Akte nach der nächsten ab wie am Fließband. Die Treppe in der Kanzlei, an der das Geschehen stattgefunden hatte, mied ich aber und nahm immer den Umweg über die andere Treppe am entgegengesetzten Ende des Flurs. Auch Marks Büro suchte ich kaum noch auf. 

Mark schien mit meiner Verzweiflung überfordert. Er hatte die knallgelb gestrichenen Wände in der Wohnung zähneknirschend hingenommen. Hatte das zerbrochene Porzellan auf dem Küchenboden kommentarlos aufgesammelt. Hielt mich nachts fest im Arm, wenn ich in meinen Albträumen schrie. 

Aber verlor nie ein Wort über unser Kind.

Und legte das Mandat Grado nicht nieder.

Grado. Eine unbändige Wut, gepaart mit Verzweiflung und Hilflosigkeit, kochte in mir hoch. Es krachte. Erschrocken sah ich auf meine Hände und stellte fest, dass ich den Bleistift in der Mitte zerbrochen hatte.

Grado, dieses Monster. Irgendwo in meinem Kopf meldete sich vorsichtig meine Stimme der Vernunft. Sagte mir, dass Grado nicht schuldig war. Jedenfalls nicht allein schuldig. Ich hatte den Schritt nach hinten gemacht, ich hatte die Treppe hinter mir vergessen, ich hatte mein Kind herabstürzen lassen. Mein Inneres brannte und mein Magen fühlte sich an, als hätte man ihn mit Brennnesseln ausgerieben. Es gelang mir, meine Wut und meine Verzweiflung wieder auf Grado zu lenken. Er hatte schon so viel auf dem Gewissen und jetzt auch noch mein Kind. Wäre er nicht gewesen, würde ich das kleine Leben noch in mir tragen. Ich wusste, dass ich nicht unschuldig war. Aber ich ertrug schon kaum den Verlust des kleinen Lebewesens. Mich damit auseinanderzusetzen, was meine Schuld an dem Geschehen betraf, würde mich innerlich umbringen. Also konzentrierte ich all meine Gefühle auf Grado, die Wut, die Verzweiflung und die Trauer.

Sonne und Mond (Kontra K)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt