4. Das erste Treffen ✔️

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Eren POV:

Ich war extra früh aufgestanden, um früh bei der Arbeit zu sein. Ich wusste nicht, warum ich so aufgeregt war. Vielleicht, weil ich das erste Mal auf einen Schwerfall treffen würde. Das wäre eine komplett neue Erfahrung für mich. Aber ich darf mich davon nicht beirren lassen, denn ich wollte meine eigene Sichtweise zu ihm haben. Eine Diagnose machte noch lange keinen Menschen aus. Sie zeigte nur, dass man besonders war.

Ich verbrachte die ersten Arbeitsstunden wie immer mit Akten. Ich bekam auch eine Liste von meinen Patienten, da sie auf einem sehr guten Weg waren und bald entlassen werden konnten. Als ich die Liste herunterfuhr, musste ich nur glücklich lächeln. Auf dieser waren viele Namen von Kindern, die es sehr schwer hatten und jetzt zu sehen, dass es ihnen besser geht, ist einfach nur schön. Dann wurde ich von einem Klopfen aus meinen Gedanken getrieben.

Ich schaute zur Tür und erblickte Dr. Smith. „Guten Morgen, Eren. Bereit für die Geschlossene?", fragte er mit einem leichten friedlichen Lächeln, worauf ich ihm zuversichtlich zunickte. Wir verließen mein Büro und gingen in Richtung geschlossene Abteilung. Als wir vor der massiven Stahltür standen, legte Erwin eine Karte an das Schloss, wodurch sich die Tür öffnete. 'Das ist ja mal ein Ding. Das sowas nötig ist'. Wir betraten den kühlen und eintönigen Gang. Alle Patientenzimmer waren offen. Als wir an einer vorbeiliefen, erkannte ich sogar Wände, die vollgeklebt mit Papier waren. Auf dem Papier waren schwarze Symbole aufgezeichnet. Ich fragte mich, was ihm wohl passiert sei und was seine Symptome bedeuteten... Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als wir vor einer komischerweise geschlossenen Zimmertür stehen blieben. Ich schaute zu Erwin, der mich mit einem Blick ansah, der sich wohl zu fragen schien, ob ich mir auch wirklich sicher war. Ich nickte ihm nur entschlossen zu.

„Bevor wir reingehen, ziehe dir bitte diese Schuhüberzieher über. Levi hat einen kleinen Reinlichkeitstick", stellte er klar und deutete mit seinem Klemmbrett auf eine Packung neben der Tür. Ich nahm mir zwei und zog sie mir über. Danach betraten wir das Zimmer. Ich war sichtlich nervös, versuchte aber mein Bestes, es nicht allzu stark zu zeigen. Der Raum war nur schwach beleuchtet. Sofort erschlug einem der Geruch von Zitrone und Reinigungsmittel, an den ich mich erst mal gewöhnen musste. Als ich mich weiter umsah, verstand ich was Erwin mit 'kleinen Reinlichkeitstick' gemeint hatte. Alles im Raum war sehr sauber und sortiert. Alles hatte seinen bestimmten Platz. Das war mehr Ordnung, als ich es meinem ganzen Leben je hatte.

Mein Blick blieb bei einem jungen Mann hängen, welcher auf der breiten Fensterbank saß und nach draußen schaute. Ich schaute Erwin unsicher an, welcher mich aber wieder nur sicher anlächelte. Ich war ein bisschen überfragt, dabei waren mir solche Situationen nicht gerade unbekannt.

„Guten Morgen, Levi", begrüßte Erwin Levi, welcher aber keine Reaktion zeigte und blickte weiterhin nach draußen. „Ich habe jemanden mitgebracht. Ich hoffe es ist ok." – „Solange er keinen Dreck macht, ist es mir scheiß egal." Als ich seine tiefe Stimme hörte, fuhr ich verwundert hoch. Wie konnte seine Stimme trotz seiner Körpergröße so tief und kalt sein? Nur noch mehr Fragen.

Wir nahmen uns zwei Stühle und setzten uns vor die Fensterbank. Levi war immer noch von uns weggedreht und schaute in den Hof. Er schien gerade in Gedanken vertieft zu sein. Es war mir schon etwas unangenehm, ihn dabei jetzt unterbrechen zu müssen. Ich fühlte mich fehl am Platz.

„Wie geht es dir heute, Levi?", fragte Erwin und nahm sich sein Klemmbrett zur Hand, bereit jedes Wort Levis aufzuschreiben. Doch Levi gab nur ein Schulterzucken zu erkennen. Eine Augenbraue von Erwin ging in die Höhe. „Warum weißt du es nicht?", hakte Erwin nach und schaute so, als wäre so eine Antwort nicht das erste Mal gekommen. Ich konnte mir schon Levis Reaktion denken. „Keine Ahnung. So wie immer", sagte er emotionslos und drehte sich langsam zu uns. Als ich in sein Gesicht blickte, fielen mir sofort seine grau-blauen Augen auf. Sie waren leer. Nur Kälte und Einsamkeit war zu sehen. Und unter ihnen waren bodenlose Augenringe, die seine Schlafstörung deutlich zu erkennen gaben.

„So wie immer also... Hast du das gemacht oder versucht, was ich dir aufgegeben habe?", fragte Erwin, während er sich 'Keine Veränderung' auf seinem Klemmbrett notierte und ein Bein überschlug. Levi richtete seinen Blick von mir ab und schaute dann zum nahen liegenden Schreibtisch. Er nickte in diese Richtung. Ich war dennoch verwirrt. Was sollte er denn machen? Was schreiben?

„Erwin, was sollte er denn machen?", flüsterte ich Erwin zu. „Er sollte seine Emotionen oder Gedanken zeichnerisch darstellen." Jetzt machte so einiges mehr Sinn. Ich stand auf und überreichte Erwin die Zeichnung, ohne selber darauf zu schauen. Er sah sich die Zeichnung genau an und verzog das Gesicht etwas. Ich wollte das Bild auch sehen, also fragte ich kurz danach und bekam danach direkt das Bild von Erwin gereicht. Ich war wie gefesselt von dem Abbild, was sich mir bot.

„Damit hätte ich jetzt nicht gerechnet. Warum hast du das gezeichnet?", fragte Erwin verwundert und schaute auf zu Levi, dessen Blick aber wieder den Geschehnissen draußen angehörte.

„Ich weiß nicht. Es war einfach da." Ich konnte seine Miene in der Spieglung des Fensters sehen. Sein Blick wanderte über den Hof, als wäre dort etwas Spannendes zu sehen.

Auf dem Bild war ein Ausschnitt aus seiner Vergangenheit zu erkennen - das vermutete ich jedenfalls. Er saß im Blut seiner Familie und starrte verloren ins Leere. Man konnte so viele Emotionen auf diesen einen Ausschnitt sehen. Mich überkam ein gewaltiger Schauer an Mitleid und Neugierde. Ich fühlte mich nur unwohl. Aber ich wollte mehr wissen. Über ihn...

„Wie hast du dich gefühlt, als du das gezeichnet hast?", fragte ich plötzlich frei heraus, ohne mich seiner Antwort im Klaren zu sein. Aus meinem Augenwinkel konnte ich sehen, dass Erwin mich etwas überrascht ansah; er hatte mit meiner plötzlichen Redseligkeit wohl genauso wenig gerechnet, wie ich selbst. Ich ließ mich aber davon nicht aufhalten und schaute weiter in Levis Richtung. Dieser fuhr kurz zusammen und wandte sich dann in unsere Richtung.

„Was interessiert dich das?", fragte er und wirkte angepisst, ihm passte die Frage wohl gar nicht. „Aus reinem Interesse. Ich würde es nur gerne wissen, was dich so fühlen lässt." – „Welche Gefühle?... Tch. Es gibt in mir nichts mehr, was man als Gefühl bezeichnen könnte. In mir ist nur noch Leere. Seit diesen einen Tag habe ich keine Lust mehr. Wozu auch? Es gibt keinen mehr, der mir noch irgendetwas bedeutet.", sagte er auf den Boden schauend und spielte etwas an seiner lockersitzenden Hose. Menschen taten das meistens, wenn für sie etwas unangenehm war oder nervös sind. Das ist Fakt. Levi schien sich doch was dabei zu denken.

Erwin war sichtlich erstaunt über Levis Reaktion und notierte alles Gesagte auf seinem Klemmbrett. Dann streckte sich Levi kurz, worauf ein Ärmel seines Langarmshirts etwas runterrutschte und frei war. Mein Blick wanderte in die Richtung und ich erkannte, dass sein ganzer Arm mit Narben bedeckt zu sein schien. Mir wurde nur noch mehr bewusst, wie hart er es gehabt haben musste. Er hatte gekämpft, das konnte man klar sehen. Umso mehr wollte ich wissen was passiert war, um ihn aus dem Teufelskreis zu ziehen.

-

Nach ungefähr weiteren zwanzig Minuten waren wir gegangen. Levi hatte immer weniger Antworten für uns und verschloss sich. Ihm schien es doch etwas zu überfordern. Verständlich. Sonst kam immer ein Psychiater, nun waren es zwei. Als wir schließlich wieder in Erwins Büro ankamen, setzte er sich wieder auf seinen Schreibtischstuhl und griff schon nach der nächsten Akte. Eine unangenehme Stille füllte den Raum. Ich trommelte unsicher mit meinen Fingern an meinem Bein, was Erwin zu merken schien und zu mir aufsah. "Ist irgendwas, Eren?"

„Erwin, ich muss dich was fragen..."

Trust Is Useless [Ereri/Riren]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt