15. Nicht allein✔

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Levis Sicht:

Ich schlenderte Mike nur hinterher. Wir beide sagten kein Wort. Ich merkte nur, wie meine Hände zitterten. Deswegen hielt ich sie hinter den Rücken, damit keiner es sah, wie nervös ich war. Die Laute aus der Mensa wurden immer lauter und erfüllten meine Ohren. Ich musste mich erstmal daran gewöhnen. Kein Wunder, wenn man immer nur mit wenigen Leuten, bis gar nicht gegessen hat.

„Willst du dich zu mir setzen? Dann brauchst du nicht allein sitzen", bot Mike mir netterweise an. Ich musste überlegen. Sollte ich das tun? Was passierte, wenn ich das tue? Werden mich andere auslachen oder ausfragen, warum ich hier war? Aber wenn ich nochmal so drüber nachdachte, dann war Mike eigentlich ganz nett. Ich nickte kaum merklich, er schien es aber gesehen zu haben. „Gut, dann holen wir uns eben unser Essen ab und dann setzen wir uns da hinten hin." Er zeigte auf einen leeren Tisch in der Ecke des Raumes. Ich nickte wieder etwas unsicher. Ich war etwas überfordert mit der Situation, kam aber doch besser klar, als ich gedacht hätte.

Mit unserem Tablett liefen wir zum Tisch und setzten uns. Er fing direkt an zu essen, während ich nur mit der Gabel im Kartoffelpüree rumrührte. „Hast du keinen Hunger?", fragte mich Mike und hob seinen Kopf. „Ich kann nicht so schnell essen", gab ich als Antwort. „Kein Problem, lass dir Zeit. Das Mittagessen geht 1 ½ Stunden. Nicht alle kommen immer zur Anfangszeit, also nur mit der Ruhe", ich nickte und nahm zögerlich die erste halbvolle Gabel in den Mund. Früher, wenn ich was gegessen habe, dann dachte ich immer nur an das Blut und an die Leiche meiner Familie, mir wurde schlecht. Es besserte sich jedoch und jetzt konnte ich wieder etwas in kleinen Mengen essen. Bescheuert, wenn man so drüber nachdachte.

„Möchtest du, dass ich dir etwas hier und den Tagesablauf erzähle?" Ich hob interessiert den Kopf. Wäre nicht schlecht über die Regeln Bescheid zu wissen. „Ja", war meine knappe Antwort. Mike nickte und schluckte sein Essen runter. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er schon fertig war. Was für ein Schlucke, dachte ich.

„Also gut. Von 7 bis 8.30 Uhr kannst du frühstücken. Ab 12.30 bis 14 Uhr ist Mittagessen und Abendessen ist von 18 bis 19.30 Uhr. Wenn du keine Therapie hast, dann kannst du dich im Aufenthaltsraum aufhalten, dort Spiele spielen, Fernsehen und mit anderes reden usw. Oder du kannst dich für Aktivitäten melden. Du kannst aber auch im Zimmer sein, ganz egal. Das ist hier wie ein großes Wohnheim, nur das hier alle nicht ganz gesund sind. Keine schämt sich hier für seine Probleme. Man ist schließlich nur hier, um sich helfen zu lassen. Und nicht, weil man schwach ist", erklärte mir Mike und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Oh, und noch was. Ab 21 Uhr müssen wir auf unsere Zimmer", hing er noch dran.

„Darf ich dich was fragen?", fragte ich zögerlich. Mir war es sehr unangenehm. „Klar, alles was du willst."- „Ich wollte dich fragen, warum du hier bist? Wie sind die anderen?" Ich legte meine Hände auf meinen Schoß ab und fing an mit meinen Händen zu spielen. Mike zögerte erst, entschied sich aber dann doch mir zu antworten. Es fiel ihm wohl auch nicht besonders leicht. „Ich habe ein Trauma. Ich war normal zur Bank gegangen, geriet aber in einen Banküberfall. Es wurde geschossen, geschrien und getötet. Ich konnte damit nicht alleine Umgehen und hab mich dann in Therapie begeben. Die haben mich dann hierher verfrachtet. Jetzt bin ich schon seit 2 Jahren hier. Ich hatte am Anfang sehr große Angst. Ich wollte nichts falsch machen und habe mich komplett isoliert. Es gab aber eine Person, die mich daraus geholt hatte. Ohne ihr wäre ich wahrscheinlich nicht hier. Er hat mir geholfen wieder unter Leute zu gehen und hat mir alles gezeigt und erklärt. Jetzt, wo er nicht mehr da ist, mache ich das für andere." Es war sehr interessant. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass es Leute gibt, die ähnliches durchlebt haben wie ich. Dieser Gedanke beruhigt mich etwas.

„Ich habe da auch so eine Person, die mich aus dem schwarzen Loch geholt hat", fing ich an zu erzählen und schaute nachdenklich auf meinen Teller. Mike sah zu mir, hörte mir wohl genaustens zu. konnte ich erahnen. „Bis vor paar Monaten hatte ich mich komplett isoliert. Ich habe niemanden an mich rangelassen, habe kaum bis gar nichts gegessen, ich dachte einfach es wäre sinnlos. Es würde sich eh keiner für mich interessieren, aber da hatte ich mich geirrt. Diese eine Person hat mir den Weg zurück gezeigt. Sie hat mit mir geredet und mich wie einen normalen Menschen behandelt und nicht wie einen Patienten", sprudelte es erstaunlicherweise gelassen aus mir raus. Bevor ich mich versah, hatte ich ein leichtes Grinsen auf meinem Gesicht. Als ich dies jedoch merkte, schaute ich sofort wieder weg, damit das keiner sah. Wie konnte ich nur auf einmal so viel auf einmal reden? Das konnte ich sonst nur bei Eren. „Ich versteh schon. Komm, wir gehen wieder", sagte er und stand mit dem Tablett in der Hand auf. Ich hatte gerade mal die Hälfte gegessen, ich hatte aber keinen Hunger mehr. Wir gaben die Tablette ab und gingen wieder in unser Zimmer.

Mike setzte sich auf sein Bett und fing an zu lesen. Ich setzte mich an den Schreibtisch und begann meine Zeichnung zu vollenden. „Wer ist das?", kam es plötzlich von hinten. Ich zuckte schreckhaft zusammen. Mike stand direkt hinter mir. „Das ist ein Portrait von der Person", gab ich kleinlaut zu verstehen. Mike atmete lächelnd aus und klopfte mir auf die Schulter, ehe er wieder zu seiner Seite ging. Ich erstarrte. Er hatte mich angefasst... Er hatte meine Schulter berührt! Aber... es... es ging. Angenehm war es mir trotzdem nicht – überhaupt nicht. Ich zählte wieder rückwärts und fing an zu zeichnen. Als ich dann nach ein paar weiteren Stunden auf das fertige Portrait sah, musste ich schmunzeln. Schnell packte ich die Hand vor meinem Mund. Es durfte niemand sehen, außerdem fühle ich mich dabei unwohl.

Das Abendessen verlief fast genauso, nur, dass es etwas mehr Leute da waren. Aber ich war durch Mike und seinen Geschichten so abgelenkt, dass ich sogar relativ ruhig blieb. Als wir dann wieder im Zimmer waren, fing ich an zu lesen. Um 21 Uhr kam eine Frau mit einem Wagen vorbei. Die sah auf eine Liste und kam ins Zimmer. Ich überprüfte. Ja, sie hatte saubere Schuhe. „Hier, ihre Tabletten, Herr Zacharius", sprach die Frau sanft und holte eine kleine gelbe Dose, wo Tabletten drin waren. „Danke." Mike nahm die Tabletten an und legte die Dose auf seinen Nachttisch. „Aber auch wirklich schlucken und nicht wieder ausspucken", tadelte die Frau und sah ihn mit einem warnenden Blick an. Ich schluckte. Wie die gucken konnte, oh Mann. „Und jetzt zu Ihnen, Herr Ackermann." Sie sah mich kurz an, dann auf ihr Klemmbrett. Sie drehte sich um und verließ den Raum. Sie kam mit einer schwarzen Dose wieder. „Und Sie bitte auch alle schlucken, ja?" Sie wollte sich gerade wieder wegdrehen, aber ich wollte sie noch was fragen. „Was-Was sind das für Tabletten?", wollte ich wissen. „Warten Sie, ich schau eben nach... Das sind Vitamine, Magnesiumtabletten und was gegen Eisenmangel. Und ein leichtes Beruhigungsmittel, was ihnen beim Schlafen hilft", erklärte sie mir und klemmte das Klemmbrett unter ihren Arm. Ich nickte verstehend. Oke, also dasselbe wie auf der Geschlossenen. „Gut, dann wünsche ich eine gute Nacht, die Herren", waren ihre letzten Worte bevor sie das Zimmer auch wieder verließ.

„Du kommst von der Geschlossenen?", fragte Mike mich völlig perplex. „W-Was?", fragte ich nochmal nach, ich hatte seine Frage nicht verstanden. „Deine Dose ist schwarz. Deswegen frage ich, ob du von der Geschlossenen kommst. Die Dosen sind meistens Schwarz." Damit hatte er sich die Frage doch selbst beantwortet. „Achso...ähm ja." – „Ist das schlimm?" Ich schaute ihn an. "Ach egal. Das du jetzt hier bist, zeigt doch nur, dass du nicht aufgegeben hast und weiter machst. Die Leute, die von dort kommen, werden hier besonders geschätzt. Die von oben wollen uns so zeigen, dass es Menschen gibt, die es geschafft haben. Keiner wird hier ausgelacht oder geärgert, nur weil er etwas mehr Hilfe als die anderen braucht. Keine Sorge." Ich nickte ihm dankend zu. Mike nahm seine Pillen und ich meine. Es waren nicht gerade wenige. Würde ich mehr essen, dann müsste ich nicht so viel schlucken, aber mein Körper raffte das noch nicht so ganz. Es wurde besser, das musste ich mir immer wieder sagen.

Ich lag trotz der Beruhigungsmittel noch etwas wach. Mike war schon am Schlafen wie ein Stein. Zum Glück schnarchte er nicht, dann hätten wir ein großes Problem. Ich schätzte es so um 0 Uhr, als ich einschlief.

Trust Is Useless [Ereri/Riren]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt