Entscheidungen

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Der Weg durch das Kirchenschiff kommt mir sehr lang und gleichzeitig viel zu kurz vor. Alle starren mich an und ihre Blicke kribbeln unangenehm auf meiner Haut. Bestimmt sehe ich sehr schön aus, ein bisschen nervös, ein bisschen bleich, aber genauso wie eine glückliche Braut aussehen sollte, die sich einen reichen, gutaussehenden Junggesellen geangelt hat. Zweifellos wären sie froh und stolz an meiner Stelle, die Frauen aus dem Dorf, die mich so bewundernd betrachten. Aber ich bin keine von ihnen und ich bin auch nicht glücklich. Im Gegenteil, ich habe das Gefühl, dass ich mit dieser Hochzeit geradewegs in mein Verderben renne. Natürlich ist das völlig irrationaler Unsinn, dennoch, der Drang wegzulaufen -diese Farce hier abzubrechen- wird immer stärker. Ich muss all meine Willenskraft und meinen Mut zusammennehmen, um nicht stehen zu bleiben, sondern einen Fuss vor den Andern zu setzen, bis ich den Priester und Ihn erreiche.

Wenn ich mir wenigstens vorstellen könnte, dass es jemand Anders -nur nicht er- sei. Aber es gelingt mir nicht. Ich hebe den Blick und sehe Guy vor mir, meinen zukünftigen Ehemann. Obwohl ich viel Zeit hatte, mich an diesen Gedanken zu gewöhnen, ist es immer noch befremdend, von ihm als dem Mann zu denken, mit dem ich meine Zukunft verbringen werde.
Beim Gedanken, alles mit Guy zu teilen -das Leben, das Haus, das Bett- wird mir schlecht. Wenn er da ist, kann ich mich nicht entspannen, ich muss stets auf der Hut sein, ich kann mich ihm nicht öffnen, ich werde ihm niemals meine geheimsten Gedanken anvertrauen können, denn wenn Guy wüsste, wenn er auch nur ahnen würde- Was wird das nur für ein Leben sein, ein Leben in einem goldenen Käfig, ein Leben voller Wachsamkeit und Misstrauen-

Ich weiss nicht, wieso mich das so ängstigt, schliesslich bin ich weder die Erste noch werde ich die letzte Frau sein, die einen Mann heiratet, den sie nicht liebt, aber die Furcht davor ist da und macht sich jetzt, gerade jetzt -im Unpassendsten aller Momente- bemerkbar. Ich weiss nicht, wieso ich so ein heftiges Widerstreben gegen eine Ehe mit Guy fühle, wenn doch alle rationalen Gründe dafür sprechen.
Aber du liebst ihn nicht!, schreit Robins Stimme in meinem Kopf und der Schmerz in seiner Stimme zerreisst mir das Herz. Sei still, gebe ich in Gedanken zurück. Kannst du mir helfen? Hast du eine bessere Idee? Dann halt die Klappe und mach es mir nicht noch schwerer als es ohnehin schon ist!
Natürlich liebe ich ihn nicht, weil ich immer nur dich geliebt habe.
Aber das tut nichts zur Sache, es ist richtig, es ist notwendig, dass ich den Bund der Ehe mit Guy eingehe. Nur Mut, Marian! Ich liebe ihn nicht, aber er wird ein ehrenhafter Gatte sein und die Gefühle werden vielleicht mit der Zeit kommen, wenn ich ihn besser kennenlerne. Mein Vater braucht mich, er braucht Guys Schutz. Wenn ich Guy nicht heirate, sind wir dem Sheriff hilflos ausgeliefert. Ich habe keine Wahl.

Man hat immer eine Wahl!, meldet sich Robin erneut zu Wort. Und dieses Mal rolle ich gedanklich mit den Augen. Dieser Idealist! Nein, habe ich nicht, ich habe keine Wahl! Werd erwachsen!, gebe ich in Gedanken zurück. Robin hat gut reden, er hat keine Angehörigen, niemand um den er sich kümmern, um den er sich sorgen müsste.

Vielleicht könnte ich als Guys Vertraute seine guten Seiten -Welche guten Seiten?, wirft Robin ein- zum Vorschein bringen, ihn dem Sheriff abspenstig machen, sogar auf unsere -meine und Robins- Seite holen.

Robin... Wenn ich doch nur ihn heiraten könnte, wenn doch nur er hier stehen würde an Guys Stelle, wenn ich doch nur sein Gesicht sehen könnte statt Guys...wenn er hier stehen würde, wäre ich glücklich, wenn er hier stehen würde, würde er mir meine Nervosität mit seinem kleinen Lächeln nehmen. Er würde mir sein kleines Verschwörerlächeln schenken und alles wäre gut. Aber mir gegenüber steht Guy und es ist Guy, der mich mit einem durchdringenden Blick aus seinen Gletscheraugen betrachtet und es ist Guys Ring, der mir auf den Finger geschoben wird. Und es ist Guy, der mein Mann wird, denn es ist die einzig richtige Alternative, die ich habe. Ich muss das Richtige tun.

Wie ein Echo von Robins Worten schiesst mir ein Gedanke durch den Kopf: Ich habe es satt, immer das Richtige zu tun! Mehr als alles andere, das er zuvor gesagt hat, mehr als alle seine anderen Einwände ist es das, was mich zum Zögern bringt. Der Unterton, der darin mitschwingt -Ich habe es satt, immer verantwortlich zu sein, immer das zu tun, was für die Allgemeinheit das Richtige ist- trifft das was ich empfinde so genau... Ich liebe meinen Vater, aber ich habe es so satt, die Verantwortung zu tragen, bei meinen Entscheidungen immer darauf Rücksicht nehmen zu müssen, ob das was ich tue für ihn negative Folgen hat.

Kann ich nicht einmal im Leben tun, was ich will, was mir gefällt? Einmal im Leben etwas Unvernünftiges tun, etwas, das nicht auf Logik, Rationalität und wohlgemeinten Ratschlägen beruht? Einfach nach meinen Wünschen handeln, ohne an die Konsequenzen zu denken? Einfach tun was mir gefällt, ohne Rücksicht auf Gefahr und Konventionen? Frei sein von allen Vorbehalten, völlig frei in meinen Entscheidungen? Ja, ja das möchte ich. Frei. Frei sein von Guy, frei für Robin...
Bevor ich darüber nachdenken, mich selbst entmutigen kann, balle ich die Hand zur Faust und schlage zu, mitten hinein in Guys Gesicht. Ich spüre wie das Metall des Ringes sich in seine Wange bohrt, sehe wie die Hoffnung und Freude auf seinem Gesicht sich in Schmerz und Enttäuschung verwandeln. Nur Eins sehe ich nicht auf seinem Gesicht: Überraschung. Nein, er ist nicht überrascht. Und wenn sogar Guy nicht erstaunt ist, dass ich ihn nicht heiraten kann, wieso habe ich dann so lange für diese Entscheidung gebraucht?

Vermutlich sollte ich Schuldgefühle haben, Guy gegenüber, den ich gedemütigt und benutzt habe und gegenüber meinem Vater, der nun dem Sheriff hilflos ausgeliefert ist. Aber ich habe kein schlechtes Gewissen, ich fühle mich nur...frei. Und dieses Gefühl von Freiheit trägt mich hinaus aus der Enge und der Dunkelheit der Kirche, weg von den Zwängen, die eine Ehe mit Guy mit sich bringen würde, hinaus in die sonnige, lichte Welt, einer neuen, unbekannten Zukunft entgegen.

Robin/Marian One ShotWo Geschichten leben. Entdecke jetzt