Traum des Vergangenen

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In einer Landschaft aus grasgrünen Hügeln, die sich bis in die weite Ferne erstreckten, direkt neben einem breiten Fluss hatte eine Menschenfamilie ihre Behausung aufgebaut. Neben der Hütte aus Ästen, Blättern und Moos hatte die Frau eine Art Wäscheleine zwischen zwei Bäumen gespannt. Die Klamotten ihres Mannes, der beiden jungen Kinder und auch ihre eigenen trockneten gerade in dem warmen Wind. Die Sonne schien strahlend vom Himmel und blendete den kleinen Jungen, während er versuchte, seiner großen Schwester über das trockene Gras hinterher zu rennen. Der Vater saß an der erloschenen Feuerstelle und schlug mit einem Stein einen anderen scharf. Er würde schon bald das Abendessen jagen gehen. In dem nahegelegenen Wald würde er sicher schnell ein Wildschwein oder ein Reh finden können. Die Frau könnte am Waldrand mit den Kindern ein paar Beeren sammeln gehen. Er hatte den restlichen Tag perfekt durchgeplant - genauso wie den Tag davor und den davor. Jeden Tag aufs Neue sorgte er für seine Familie. Er war immer wachsam und sprang bei jeder drohenden Gefahr sofort vor seine Frau und die Kinder, um sie zu schützen. Sie vier waren eine ganz normale Familie und konnten keinesfalls auch nur im Entferntesten ahnen, was sich gleich unmittelbar vor ihrer Nase abspielen würde.

Nicht weit von ihnen entfernt, weiter oben am Flusslauf auf einem Hügel stand ein junger Mann. Er war nicht wie die Menschen im Tal gekleidet in aus Tierleder per Hand gefertigten Klamotten. Er hatte einen metallenen Brustpanzer über einem schwarzen Leinenhemd an und an den Handgelenken passende Armschoner. Dazu trug er eine Hose in tarngrün und braune Lederstiefel. Seine dunklen Haare wehten im Wind und ein Bart in derselben Farbe umrahmte sein markantes Gesicht. Die braunen Augen hatte er nachdenklich in Richtung Tal gerichtet und beobachtete die Menschenfamilie. Zum wiederholten Mal wurde ihm klar, wie unterschiedlich sie doch waren. Der größte und offensichtlichste Unterschied waren die großen, weißen Flügel, die der junge Mann am Rücken hatte. Er fand die Menschen armselig, wie sie dort unten in der klapprigen Hütte ihr langweiliges Leben führten. Wenn er an ihrer Stelle wäre, würde er sich deutlich mehr amüsieren. Er würde seine begrenzte Zeit nutzen und möglichst viel in der Welt herumkommen, möglichst viel erleben. Diese Familie hatte doch niemals etwas anderes gesehen als den Fluss, die grünen Hügel und den nahegelegenen Wald.

Trotz allem musste er bei dem Anblick an seine eigene Familie denken. Ob sich sein Vater bei der Erschaffung der Menschheit an seinem eigenen Familienbild orientiert hatte? Nein, dafür war ihre Familie zu verdorben. Der junge Mann - ein Engel? - wünschte sich, dass es wieder so wäre wie bevor er... bevor man ihn aus dem Himmel verstoßen hatte. Es war unbeschwerter damals, als er und seine Geschwister noch jünger waren. Zwar hatte es damals schon Streit und Kämpfe gegeben, aber das waren nur harmlose gewesen.

Er seufzte bei sich. Was konnte er daran jetzt noch ändern? Nichts. Er war zwar mächtig, aber nicht mächtig genug, um die Zeit zurückzudrehen und Geschehenes ungeschehen zu machen. Er war sich nicht mal sicher, ob sein Vater das konnte.

Der Engel wollte sich von der Menschenfamilie abwenden und zurück dahin gehen, wo man ihn haben wollte; sich seinem Schicksal stellen. Hier auf der Erde war eh nichts, was ihn hätte begeistern oder unterhalten können. Doch als er sich umdrehte blickte er in das Gesicht einer Frau - einer hübschen Frau. Sie hatte lange dunkelbraune Haare und Augen in derselben Farbe. Ihre Haut hatte einen dunklen Teint und wurde größtenteils von einem dünnen, aber langen Kleid bedeckt.

"Hallo, Samael."

Der Engel - Samael - seufzte genervt auf. "Ich benutze diesen Namen nicht mehr, Lilith."

"Achja, stimmt." Sie tat so, als hätte sie den Namenwechsel ihres Gegenübers vollkommen vergessen, in Wahrheit aber fand sie seinen ursprünglichen Vornamen schöner. Ein bisschen hatte sie gehofft, dass er sich umentschieden hatte und wieder seinen alten Namen benutzte.

"Na gut, Lucifer." Sie betonte den gewünschten Namen noch einmal extra, bevor sie in normaler Tonlage fortfuhr: "Ich habe meine Kinder in die Hölle geschickt."

Lucifer sah sie einen Moment ausdruckslos an und ließ seinen Blick von oben bis unten über ihren Körper gleiten. Er hatte sie schon ein paar Mal gesehen, auch bereits wenige Worte mit ihr gewechselt, aber jetzt, wo sie ihm allein gegenüberstand,... das war noch einmal eine Klasse für sich. "Ich nehme an, ich sollte dir dafür jetzt danken...?"

"Musst du nicht, ich hab es..."

"...für mich getan?", unterbrach Lucifer Lilith. "Sei ehrlich, du willst sie doch nur loswerden, um mehr Freiheiten zu haben."

Liliths Lächeln verschwand augenblicklich. "Ich stelle sie dir als Armee zur Verfügung, damit sie schnell lernen, auf eigenen Füßen zu stehen. Die Zeit in der Hölle wird sie stählern und stärken. Es ist nur zu ihrem Besten."

"Wie du meinst." In Lucifers Stimme klang ein Hauch Spott mit, bevor er mit einer Hand auf die linke Hand der Frau wieß. "Ein wirklich schöner Ring, den du hast. Erinnert mich ein bisschen an einen gewissen Garten."

Lilith verdrehte die Augen. "Bist du wirklich nur auf die Erde gekommen, um mit mir über meinen Schmuck zu reden?"

"Nein! Nein, natürlich nicht!" Lucifers Blick geleitete an ihr vorbei den Hügel hinunter zu der Menschenfamilie. Die beiden Kinder zeigten dem Vater gerade stolz, was sie alles mit der Mutter gesammelt hatten. "Ich wollte nur noch einmal etwas anderes sehen als die staubigen Gänge der Hölle. Etwas Schönes." Seine Augen wanderten wieder zu Lilith und er musterte sie noch einmal von oben bis unten. In letzter Zeit war für ihn so viel schiefgelaufen. Eigentlich konnte es nicht schlimmer werden... Warum also nicht...?

Er trat einen großen Schritt auf Lilith zu, sodass sich nur noch wenig Abstand zwischen ihnen befand und sie ihren Kopf in den Nacken legen musste, um ihn anzusehen.

"Weißt du, Lucifer", sagte sie, ihre Stimme nur noch der Hauch eines Wisperns, doch trotzdem verstand der andere sie klar und deutlich. "Von allen Kindern Gottes warst du immer der, den ich am meisten gemocht hatte. Deswegen hab ich dir auch die Armee geschenkt."

Lucifer streckte eine Hand aus und legte sie auf Liliths Hüfte - erst zögerlich, aber dann fester und bestimmter, als er merkte, dass sie sich nicht wehrte; dass sie dem, was er vorhatte, nicht abgeneigt war.

"Wir sollten das nicht tun", sagte Lilith noch, während sich ihre Gesichter annäherten.

"Ich habe schon vieles getan, was ich nicht sollte. Auf eine Sache mehr oder weniger kommt es nicht an."

Während sich auf diesem grasgrünen Hügel dieses Schauspiel und noch mehr abspielte, ahnten die vier Menschen im Tal kein bisschen, was in diesem Moment erschaffen wurde. Die Frau präparierte das Reh, das der Mann fürs Abendessen gejagt hatte, während dieser sich um das Feuer kümmerte. Die beiden jungen Kinder spielten mit ein paar Steinen am Bach. Ein- oder zweimal sah der kleine Junge einen Hügel hoch und meinte dort in der Ferne etwas Weißes blitzen zu sehen. Aber er hielt es für nichts Besonderes und beachtete es nicht weiter. Sein kleines Gehirn könnte unter keinsten Umständen begreifen, was dort oben gerade passierte.

Tochter des Teufels 2 (Lucifer ff)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt