Dunkelheit

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Ich hatte einen seltsamen Traum gehabt (wurde langsam zur Gewohnheit). Ich hatte geträumt, dass mich Michael entführt hatte. Er war mir aufgelauert in seinem hässlichen Rollkragenpullover und einem hämischen Grinsen im Gesicht. Die Narbe quer über seinem Gesicht, die mein Vater ihm verpasst hatte, war nur noch ein roter, hässlicher Strich. Sie passte zu ihm. Er hatte mich von hinten gepackt und mir eine Spritze in die Schulter gerammt. Die Flüssigkeit, die er in meinen Kreislauf eingeflößt hatte, hatte sofort gewirkt. Mir war schwummrig vor Augen geworden. Wie durch einen Schleier hatte ich mitbekommen, wie er mich hoch hob, als wäre ich so leicht wie eine Feder. Er hatte seine braun-grauen Flügel ausgebreitet und war gen Himmel geflogen.

Die Szene wechselte.

Ich befand mich in einer dunklen Höhle mit einer Gittertür, die den Ausgang blockierte. Meine Sicht war noch immer verschwommen, doch trotzdem konnte ich die Silhouette meines Onkels ausmachen. Ich konnte ihn an seiner krummen Haltung erkennen. Er sollte wirklich mal daran arbeiten - dieser Buckel war auf Dauer bestimmt nicht gesund. Die Arme hatte er hinter seinem Rücken verschränkt, während er mit langsamen Schritten auf mich zukam. Ich bemerkte, dass die Gittertür nur angelehnt war und wollte meinen Körper zwingen aufzustehen, um von diesem Ort zu fliehen. Aber ich schaffte es nicht. Allein der Versuch verursachte eine weitere Welle aus Schwindel und in meinen Ohren fiepte es. Ich kniff die Augen zusammen, damit meine Sicht wieder fokussierte, während ich durch einen dumpfen Schleier Michaels Stimme wahrnahm: "Aber, aber...", sagte er ruhig mit einem leichten, tadelnden Unterton. "Ganz ruhig. Du solltest dich etwas ausruhen." Ich wollte protestieren, aber der Teil meines Körpers, der Schlaf und Ruhe verlangte, übermannte den anderen, der einfach nur meinem Onkel entkommen wollte. Meine Augen flatterten zu, trotzdem ich mich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen wehrte, und es wurde schwarz.

Als ich aufwachte war es noch immer dunkel. Der Boden, auf dem ich halb saß und halb lag, war staubig und vereinzelt mit Steinen bedeckt. Wo war ich? Während sich meine Augen an die Finsternis gewöhnten, versuchte ich mich gerade aufzusetzen. Mein Kopf dröhnte und mir war schwummrig. Etwas raschelte, als ich mich bewegte, und ich hielt inne. Es klang nach schweren Ketten. Eine ganze Weile blieb es still, während ich mit angehaltenem Atem lauschte. Als das Geräusch nicht wiederkam, versuchte ich noch einmal mich aufzusetzen. Es klapperte wieder. Ich runzelte die Stirn, als ich bemerkte, das etwas Schweres, Metallenes um meinen Handgelenken lag. Ich war gefesselt! Ich hatte diese Geräusche verursacht! Was war hier nur los? War der Traum doch kein Traum gewesen? Hatte Michael mich wirklich entführt? Das konnte doch nicht wahr sein! Ich war die Tochter des Teufels! Man konnte mich nicht einfach so entführen!

Ich schaffte es aufzustehen und stöhnte leise. Durch die kleine Anstrengung drehte sich alles in meinem Kopf. Was für ein Zeug hatte Michael mir da verabreicht? Meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit und ich sah mich um. Wie im Traum, der wohl doch real genesen war, befand ich mich in einer Art Höhle. Zu meiner Rechten befand sich ein kleines Gitterfenster, während geradezu eine Gittertür den Ausgang versperrte. Die schweren Ketten an meinen Handgelenken waren an der Wand befestigt worden. Als ich versuchte, sie herauszuziehen, bewegten sie sich kein Stück. Nicht einmal der Fels bekam einen Riss. Wahrscheinlich war ich noch nicht wieder bei vollen Kräften, dachte ich. Wenn ich mich vollständig erholt hatte, würde ich sie bestimmt rausreißen können.

Ich lehnte mich seufzend gegen die Wand hinter mir. Ob Dad schon bemerkt hatte, dass ich verschwunden war? Suchten er und die anderen mich schon? Wie viel Zeit war eigentlich vergangen, seit ich von Lindas Haus weggegangen war? Ich schloss kurz die Augen und versuchte mich zu entspannen. Ich konnte mich nicht darauf verlassen, dass sie mich in nächster Zeit fanden. Vielleich dachten sie auch nur, ich hätte nach dem ganzen Fiasko mit Asmodus eine Pause gebraucht und war abgehauen. Irgendwann mussten sie doch aber merken, dass etwas nicht stimmte, wenn ich nicht an mein Handy ging.

Meine Augen flatterten wieder auf und ich erschrak leicht, als zwei rote, glühende Punkte mich von der anderen Seite der Gittertür anfunkelten. Ich konnte die Silhouette einer Gestalt erkennen. Die Punkte verschwanden wieder; stattdessen sagte eine mir allzu bekannte Stimme: "Hallo Lilith!" Er klang kalt und ohne jegliche Emotion, was mir einen kalten Schauer den Rücken hinunterlaufen ließ. Ich kannte ihn so nicht. Wie konnte jemand nur zwei so unterschiedliche Seiten haben? Er war ein komplett anderer Mensch - oder besser gesagt Dämon. Wobei? War er das? Wenn ich mich zurück an meine Kindheit erinnerte und wie er mich damals geärgert hatte, war ich mir dabei nicht mehr so sicher. War ich einfach nur so blind und dumm gewesen, nicht zu sehen, dass er nur mit mir spielte?

"Was willst du, Asmodeus?", knurrte ich und starrte, obwohl er es wahrscheinlich nicht mal sehen konnte, ihn möglichst böse an.

"Ach, ich wollte nur mal sehen, wie es dir geht." Ich konnte sein hämisches Grinsen förmlich hören. "Nach der herzzerreißenden Enthüllung, dass alles, woran du geglaubt hast, eine Lüge ist." Er lachte leise und tief in sich hinein. "Du warst schon immer schwach, Lilith. Damals als kleines, hilfloses Kind bis heute. Es hat schon immer höllischen Spaß gemacht, dich zu verarschen, ein paar kleine Spielchen mit dir zu spielen."

Ein Kloß hatte sich bei seinen Worten in meinem Hals gebildet. Ich fühlte mich auf einmal klein und hilflos. Ich war schwach... eine Schande für meinen Vater. Ich war nicht würdig, seine Tochter zu sein. Mein Kopf senkte sich. Asmodeus hatte Recht, ich war ein Niemand, hilflos und klein. Ich konnte mich ja nicht mal gegen eine Entführung von meinem eigenen Onkel wehren.

Ich hörte den Dämon lachen. "Wirklich erbärmlich! Wie hatte ich das nur so lange mit dir ausgehalten?"

Ich blickte nicht auf und antwortete nichts. Was hätte es auch für einen Sinn? Ich wusste, dass es stimmte, was er sagte. Ich war ein Versager. Warum war ich überhaupt geboren worden? Ich war nicht stark genug, um an der Seite meines Vaters die Hölle zu regieren. Ich war nicht stark genug, um als eine Kriegerin Gottes zu kämpfen. Warum existierte ich überhaupt? Meine Mutter war eine Dämonin. Sie hätte eigentlich gar nichts mit meinem Vater haben dürfen. Ich war ein Fehler...

Meine Augen wurden feucht und ich musste blinzeln, um die Tränen zurückzuhalten. Ich durfte vor Asmodeus nicht weinen. Es würde ihm nur Genugtuung verschaffen, mich leiden zu sehen.

Ich hörte, wie sich Schritte von mir entfernten und als ich aufsah, war auch die dunkle Gestalt des Dämons verschwunden. Ich war wieder allein mit meinen Gedanken. Trauer vermischte sich in meinem Inneren mit Wut. Ich könnte schreien. Mit zusammen gekniffenen Augen und knirschenden Zähnen versuchte ich, den Drang zu unterdrücken. Die Tränen ließen sich nicht mehr zurückhalten. Ich brach in mich zusammen wie ein Häufchen Elend - die Ketten um meinen Handgelenken rasselten, als wollten sie mich auslachen. Ich war wirklich eine Lachnummer - unwürdig, schwach und erbärmlich.

Tochter des Teufels 2 (Lucifer ff)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt