Verwirrung

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Ich war wieder eingenickt, denn als ich die Augen aufschlug, war es hell in der Höhle. Sonnenlicht strahlte durch das kleine Fenster und auf meinen Körper. Ich fühlte mich besser. Die Erschöpfung war verschwunden und als ich aufstand, drehte es sich auch nicht mehr. Meine Augen wanderten zu den Ketten und der Wand, an der sie befestigt waren. Vielleicht würde ich es jetzt schaffen, sie herauszuziehen, dachte ich hoffnungsvoll. Nachdem ich einmal tief Luft geholt und meine Schultern gerafft hatte, stemmte ich mich mit all meinem Gewicht gegen die Ketten. Mit all meiner verfügbaren Kraft versuchte ich sie rauszureißen.

"Komm schon", murmelte ich und biss in Anstrengung die Zähne aufeinander. Aber egal, was ich tat, kein einziger Riss erschien in der Wand. War ich wirklich so schwach? Asmodeus' Worte kreisten noch immer in meinem Kopf herum, aber ich ließ mich nicht mehr von ihnen übermannen. Ich hätte das gar nicht denken dürfen. Er wollte mich verunsichern und ich würde ihm nur in die Karten spielen, wenn ich es zuließ. Ich war nicht schwach, sagte ich mir. Ich war nicht unwürdig oder erbärmlich. Und meine Geburt war auch nicht nur... ein Fehler. Noch einmal versuchte ich, die Ketten herauszureißen.

"Es hat keinen Sinn, es zu versuchen", sagte jemand und mein Kopf schoss hoch zur Gittertür. "Ich habe dafür gesorgt, dass kein Engel, Teufel oder Dämon sich aus den Fesseln befreien kann." Michael stand in voller Gestalt vor mir und hatte ein verschmitztes Grinsen im Gesicht. Wut brodelte in mir hoch.

"Lass mich frei!", schrie ich ihn an, aber mein Onkel lachte nur leise.

"Da ist jemand wohl doch nicht so gebrochen, wie mir gestern ein gewisser Dämon berichtet hatte", erwiderte er und ich starrte ihn böse an.

"Was willst du von mir?!"

"Was ich von dir will? Nimm es mir nicht übel, liebe Nichte, aber hier geht es nicht um dich, sondern allein um deinen Vater." Ich wurde also wieder benutzt - großartig. Aber was hatte ich auch anderes erwartet? Es ging doch immer nur um Dad. Lucifer hier, Lucifer da. Und was ist mit mir? Ich stand hinter ihm in seinem Schatten, obwohl ich als Tochter eigentlich an seiner Seite stehen sollte. Wenn ich so darüber nachdachte... hatte er je etwas für mich getan? Etwas, was man nicht kaufen konnte? Mein Gehirn ratterte und versuchte sich krampfhaft an etwas zu erinnern. Am Anfang meines Lebens hatte er sich um mich gekümmert. Er hatte mit mir gespielt, mich ins Bett gebracht und sich, wie ein Vater das eben machte, um mich gesorgt. Vielleicht waren wir Jahrhunderte lang getrennt gewesen, aber er hatte mich nicht im Stich gelassen. Er war nicht schuld daran. Ein erschreckender Gedanke kam mir. War es dabei auch nur um Dad gegangen? Hatte Amenadiel mich nur aus der Hölle geholt, um Dad zu bestrafen? Seine Verbannung war durch mich angenehmer geworden...

Ich runzelte die Stirn. Als ich das erste Mal zu ihm auf die Erde gekommen war, da war er für mich dagewesen. Als Grandpa mich ohne ihn in die Hölle hatte schicken wollen, hatte er mir versichert, dass er das verhindern würde. Er war für mich dagewesen, hatte meine Beziehung mit Asmodeus akzeptiert, obwohl er ihn nicht leiden konnte. Er liebte mich.

"Ich nehme an, du hast ihn nicht nach deiner Mutter gefragt?" Michael sah mich fragend an, doch ich antwortete ihm nicht. Mit diesem Idioten würde ich kein einziges Wort mehr reden. Leider war mein Schweigen für ihn Antwort genug: "Also nicht." Er seufzte und schüttelte bei sich den Kopf. "Sehr enttäuschend, Lilith." Ich begegnete seinen falsch traurigen Augen mit einem bösen Blick. Ich wollte nichts von meiner Mutter wissen. Konnte er mich nicht damit in Ruhe lassen? "Dann erzähl ich es dir eben jetzt", beschloss Michael.

"Ich will nichts davon wissen!", versuchte ich fauchend ihn davon abzuhalten. Ich ahnte nämlich, dass wenn ich es wusste, es alles noch verschlimmern würde.

"Oh, ich glaube doch, dass es dich interessieren wird", meinte mein Onkel und lehnte sich gegen die Gitterstäbe. Mit einem verschmitzten Lächeln begann er zu erzählen. Ich wollte mir eigentlich die Ohren zu halten, aber meine doch vorhandene Neugier hielt mich davon ab. "Du weißt, nach wem du benannt wurdest, nicht wahr?" Natürlich, nach der Lilith, der Mutter aller Dämonen. "Dein Vater hat dir erzählt, dass eine Dämonin deine Mutter ist, nicht wahr? Und wir wissen ja alle, dass Lucifer niemals lügt." Worauf wollte er hinaus? "Allerdings hat er dir auch nicht die ganze Wahrheit gesagt." Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich wollte das doch gar nicht wissen, dachte ich, konnte aber trotzdem nicht weghören, als er das sagte, was ich schon seit längerem befürchtet hatte: "Deine Mutter ist nicht nur irgendeine Dämonin. Sie ist die Mutter aller Dämonen und du hast ihren Namen geerbt."

Ich schluckte schwer und alles in mir zog sich zusammen. Erstaunlicherweise traf es mich nicht ganz so hart, wie ich es erwartet hatte. Wahrscheinlich lag das daran, dass ich es tief in mir schon geahnt hatte. Die Vorstellung war mir immer seltsam vorgekommen, dass Dad mit einer seiner Untertanen geschlafen hätte und vor allem, weil ich sie anscheinend nie in der Hölle angetroffen hatte. Dabei befand sich dort jeder einzelne Dämon und jede einzelne Dämonin. Früher oder später hätte ich sie treffen müssen. Aber Lilith wohnte nicht in der Hölle. Soviel ich wusste, hielt sie sich oft, wenn nicht immer, auf der Erde auf. Sollte ich sie vielleicht mal suchen gehen? Aber sie hatte mich während meines gesamten Lebens nicht einmal besucht, warum sollte ich es tun? Ich kam ohne sie klar. Es hatte schon immer nur Dad und mich gegeben. Es gab keinen Platz für eine Mutter.

Die schlimmere Erkenntnis, die mich nach dieser Enthüllung traf, war die, dass alle Dämonen ja meine Geschwister waren. Maze konnte ich mir zwar schon als Schwester vorstellen, obwohl sie vermutlich immer noch wütend war, dass Dad und ich sie nicht mit in die Hölle genommen hatten. Aber Asmodems war somit auch mein Bruder! Verdammt! Ich war eine halbe Ewigkeit mit meinem Halbbruder zusammen gewesen, ohne es zu merken!

"Du nimmst das erstaunlich gut auf. Besser als ich erwartet hatte." Ich bemerkte, dass Michael mich von oben bis unten musterte.

"Schlimm?! Hab ich damit etwa deinen großartigen Plan zerstört?", fragte ich höhnisch.

Mein Onkel lachte. "Nein, hast du nicht. Er wird sich jetzt nur in einem kleinen Teil ändern."

"Ich weiß, was du vorhast!" Er hob skeptisch eine Augenbraue. "Du willst mich gegen Dad aufspielen, aber das wird nicht funktionieren!"

"Hat es das nicht schon?" Er schmunzelte schief und meine Augen weiteten sich. Was redete er da für einen Schrott? Ich hatte mich nicht gegen Dad gewandt. Warum sollte ich? Er lügte mich nur an. Natürlich lügte er. Das war ja das einzige, was er konnte.

Ich öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen, aber er war schneller: "Ich muss noch etwas erledigen. Wir sehen uns später." Er winkte mit einem amüsierten Lächeln und drehte sich weg.

"Hey! Warte! Du sollst mich doch rauslassen!", rief ich hinterher, aber er ignorierte es. Und dann war er auch schon wieder verschwunden und ich allein.

Tochter des Teufels 2 (Lucifer ff)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt