Erwin kommt ins Krankenzimmer und ich lasse Eren los, lasse eine Notiz zurück und verlasse den Raum. Der Erwachsene geht neben mir her und fragt nach meinem Befinden: "Wie geht es dir? Alles okay?" Ich nicke: "Ja. Mach dir keine Sorgen." Wir kommen beim Aufzug an und ich drücke einen Knopf. "Danke fürs Abholen. ... Ist es ungünstig gewesen? Du hast ziemlich lange gebraucht." Es piepst und die Aufzugtür öffnet sich. Einige Leute verlassen den Lift, bevor wir zwei hinein gehen. "Es war nicht ungelegen. Ich war so und so alleine zu hause.Außerdem habe ich Erens Kontaktdaten weiter geben müssen und seine Erziehungsberichtigten informieren und so weiter." - "Achso." Wir befinden uns bereits im Erdgeschoß und laufen gerade durch die riesengroße Eingangshalle, auf den Ausgang zu. "Aber hätten das nicht seine Eltern erledigen können? Ich meine, sobald sie informiert sind?" Der Blonde sieht mich überrascht an. "Was?", frage ich verwundert. "Eren hat keine Eltern mehr. Zumindest keine mehr, die sich um ihn kümmern. Ich bin überrascht, dass du das nicht weißt. Hat er dir nichts davon erzählt?" Erwin vergräbt seine Hände in seinen Jackentaschen, als wir ins Freie kommen. Ich bleibe abrupt stehen und starre den Erwachsenen an. "Nein, ... Er hat nie etwas gesagt. Lebt er etwa alleine?" Mein Gegenüber schüttelt den Kopf und sieht sich kurz um. "Gehen wir etwas trinken Ich lade dich ein." Mit diesen Worten führt er mich in ein kleines, modernes Cafe ein paar Straßen weiter.
Dort werden wir mit einem herrlichen Lebkuchenduft begrüßt und eine freundliche Bedienung weißt uns sofort einen Platz in einer Ecke mit zwei großen Polsterstühlen zu. Der brennende Kamin neben uns verschaft dem gesamten Gastraum eine angenehm ruhige Atmosphäre. Dieses wirklich coole Cafe muss ich mir merken - es ist atemberaubend schön hier. Nachdem wir bestellt haben komme ich sofort zur Sache: "Also nochmal - Eren hat keine Eltern mehr?" - "Nein, hat er nicht. Mehr kann ich dir leider auch nicht dazu sagen. Das unterliegt meiner Schweigepflicht als Vertrauenslehrer. Ich bin nur damit vertraut, um in Notfälle agieren zu können, sollten seine Erziehungsberechtigten mal nicht erreichbar sein. Eigentlich hätte ich dir das eben auch nicht erzählen dürfen. " Ich runzle meine Stirn: "Also hat er Ersatzeltern oder sowas?" Erwin schüttelt nur den Kopf: "In gewisser Weise." Ich lehne mich zurück und schließe kurz meine Augen. Das Eren ohne Eltern so wohlerzogen ist und immer so optimistisch gestimmt ist, passt in meiner Welt nicht zusammen. Haben solche Kinder nicht meistens irgendwelche Probleme? Plötzlich fällt mir der eigentliche Grund für die heutigen Strapazen ein. "Erwin ..." Ich öffne meine Augen nicht und warte lediglich auf eine Antwort, die ich auch bekomme. "Eren ist heute gar nicht gestürtzt. Er hat sich den Kopf gestoßen, als ich ihn erschreckt habe." Ich setze mich wieder aufrecht hin und sehe den Älteren mindestens genauso ernst an, wie er mich. Bevor Erwin eine Frage stellen kann, wird unser Gespräch von einer Kellnerin unterbrochen, die unsere Alkaloidgetränke abstellt. Beide machen einen Schluck von ihrem Kaffee, bevor die Unterhaltung weiter geht: "Wie meinst du das? Was genau ist heute passiert?" - "Naja - Ich habe wie immer meine Kletterstunde gehalten bis ein potentieller Spender angerufen hat. Für den Anruf bin ich hinaus gegangen und habe dort telefoniert. Eren ist die Zeit über in der Halle geblieben. Nachdem der Kunde aufgelegt hat, habe ich noch eine geraucht" Erwin setzt bei dieser Info einen leicht genervten Blick auf, "und bin dann hineingegangen. Dort habe ich ihn gefunden." "Bereits verletzt?", möchte der Blauäugige wissen. "Nein. Er ist am Boden gesäßen, hat sich die Ohren zugehalten und die ganze Zeit 'Sei still' vor sich hin gesagt. Außerdem hat er nach vorne und hinten geschaukelt. Aufgrundesen wollte ich ihn festhalten, was ich auch getan habe - er war schweißgebadet. Er ist erschrickt und hat den Kopf hoch gerissen. Dabei ist er gegen die Wand gedonnert und Eren wurde bewusstlos." Die Welle von Schuldgefühle übekommt mich wieder. Wenn ich nicht so doof gewesen wäre ihn anzufassen, würde es ihm vermutlich gut gehen. Ich starre in meine Tasse, in der ich soeben ein bisschen Zucker hinein getan habe. Ich rühre mit meinem Löffel den Doppelten Espresso um. Erwin sagt zuerst nichts, denkt über meine Worte nach. Erst nach einer Weile stellt er eine Frage zu meiner Schilderung: "War es denn laut? Hast du etwas gehört?" - "Nein! Bis auf ihn war alles mucksmäusschenstill!" Nickend wendet sich sein Blick von mir ab und starrt in die Ferne. Im Kopf des Vertrauenslehrers rattert es, bis er nach Kurzem anfängt zu sprechen: "Ich sage dir jetzt etwas, weil ich weiß, dass du Sachen für dich behalten kannst und weil ich weiß, dass du mehr bewirken kannst, als ich." Beide unsere Sitzhaltungen wechseln. Jeder lehnt sich ein Stück nach vorne, um den anderen zu zeigen wie ernst es ihm ist. Ich stütze mich mit meinen Unterarmen auf meinen Oberschenkel ab und Blicke den Älteren tief in die Augen. Der tut es mir gleich und beginnt zu reden: "Im Alter von fünf Jahren ist Eren in ein Waisenheim gekommen. Seine Mutter ist an dem Tag zuvor verstorben. Todesursache ist mir allerdings nicht bekannt. Sein Vater, der bereits vor der Geburt nirgendwo aufzufinden war, konnte bis heute nicht ausfindig gemacht werden. Verwandte gibt es nicht und so landete der Junge im Kinderheim. Aber das, was mir Kopfzerbrechen bereitet ist Folgendes: Er hat zwar um seine verstorbene Mutter getrauert, aber nicht sonderlich lange. Auch sonst gab es bis heute keinerlei Anzeichen auffälligen Verhaltens. Als wäre alles in bester Ordnung. Aus Erfahrung weiß ich, dass das nicht möglich sein kann. Irgendwie muss ein Verlust verarbeitet werden, aber bei ihm tat man nichts. Aus dem Grund, weil er sich furchtbar gegen eine Therapie gewehrt hat. Als es den Erwachsenen irgendwann zu dumm wurde, hat man ihn in Ruhe gelassen. Immerhin war ... IST Eren ein gut angepasster, unauffälliger Junge - und das seit seiner Ankunft im Heim." Auch mir leuchtet ein, dass dieses Verhalten für ein Kind, das seinen Elternteil verloren hat, abnormal ist. Ich runzle die Stirn und höre Erwin weiter zu: "Ich habe da eine Hypothese und ich befürchte, dass diese eintrifft." Ich schlucke einmal. Die Hypothesen des Älteren treffen oft ins Schwarze. "Nämlich - Was ist wenn Eren diese gesamten Dinge einfach nur verdrängt hat? Er könnte nun an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Du weißt was das heißt ..." Ich nicke. Er hat den Verlust seines einzigen Elternteils als so lebensbedrohlich oder katastrophal empfunden, dass es ihn traumatisiert hat. Diese psychische Störung geht mit Symptomen wie extreme Schreckhaftigkeit, Teilnahmslosigkeit, Freudlosigkeit und Schlafstörungen einher. ... Ich sehe den Blonden ungläubig an: "Eren wirkt auf mich nicht, als würde er das haben. Das müsste sich doch ganz anders bemerkbar machen, oder?" Erwin schüttelt den Kopf: "Menschen mit einer Belastungsstörung gehen Situationen, die sie an das Erlebte erinnert aus dem Weg. Sie möchten keine Flashbacks erleben. Das lässt Erens abweisendes Verhalten gegenüber einer Behandlung erklären. Er verdrängt lieber, anstatt das Problem aufzuarbeiten. Außerdem ist diese Störung doch sehr gut mit anderen kompatibel, nicht? Deiner Beschreibung nach kann er genauso gut eine Panikattacke erlebt haben. Zuerst löst irgendetwas einen Flashback aus, was in erhöhter Schreckhaftigkeit resultiert und des weiteren zu einer Panikattacke führt. Diese kann ja auch ohne jeglichen Trigger auftreten." Ich schüttle meinen Kopf. Die Informationen bereiten mir Kopfschmerzen. Sie sind alle so unfassbar logisch und dennoch erschreckend traurig. Ich möchte das eigentlich nur vergessen. Ich atme einmal tief ein, lehne mich zurück und massiere meine Schlefen. "Nein. Ich hätte ihn nicht alleine lassen dürfen. Dann wäre er womöglich nicht so ängstlich gewesen und ich hätte ihn nicht angefasst und schlussendlich wäre sein Schädel heil geblieben ... " Erwin macht seinen letzten Schluck und sieht mich eindringlich an: "Levi? Du weißt, du trägst keine Schuld." Ich nicke bloß und sehe zu, wie sich der Vertrauenslehrer erhebt und bezahlt. Ich folge ihm und im nächsten Moment sitzen wir in seinem Wagen. Wir haben uns darauf geeinigt, dass ich mein Auto erst wieder Montags hole und er mich gleich nach hause fahren kann.
"Riecht es hier drin irgendwie anders? ... Ein neues Duftbäumchen?", frage ich den Fahrenden und untersuche das hängende Ding an seinem Rückspiegel. Er wirkt aus unerfindlichen Gründen peinlich berührt: "Ja. Mal was anderes ..." Ich muss leicht grinsen. Da steckt sicher ein Mann dahinter. Im Augenwinkel sehe ich, dass Erwin sich anspannt, als er mein Grinsen bemerkt. Das bestätigt meine Annahme. Ich sage jedoch nichts weiter und lasse mich einfach zu hause absetzen.Ich möchte Eren in den Arm nehmen und beschützen. Aber ist es mir überhaupt erlaubt? Darf ich das? Dieser Wunsch rührt doch nur von Mitleid her. Wieso musste ich das über ihn erfahren? Was ist, wenn ich mich wie geplant in ihn verliebe, aber diese Gefühle bloß falsch sind? Ich möchte niemanden belügen... vorallem nicht ihn.

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Gebraucht (Eren x Levi)
FanfictionEren schafft es tatsächlich ein heißbegehrtes Stipendium seiner Traumschule zu ergattern. Zu Anfang steht für ihn nur der Klettersport im Vordergrund - ein Nebenfach und der Grund seiner Schulwahl. Jedoch birgt das neue Umfeld mehr Veränderungen, al...