Kapitel 23

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Meine Augen weiteten sich, als sie eine Hand neben mir auf den Tisch legte und mit der anderen den Kragen meiner Jacke packte, um mich weit nach hinten zu drücken. Sie kam mir mit ihrem Gesicht gefährlich nah.

„Du wirst wirklich mit jedem Tag frecher", stellte sie mit bedrohlich gesenkter Stimme fest.
Ihr heißer Atem schlug gegen meine Lippen. Ich hielt die Luft an, mein Herz klopfte wild gegen meine Brust. Doch nicht aus Angst, viel mehr vor Erregung. Ihre Augen waren dunkel und tief wie der Ozean bei Nacht, so undurchdringlich, dass sie mich gleichzeitig in ihren Bann zogen. Wie fremdgesteuert, hob ich meine Hand und ließ sie in Julias Nacken gleiten. Ihre weiche Haut unter meinen kühlen Fingerkuppen fühlte sich so gut an. Zu meiner Überraschung duldete sie es. Ich näherte mich ihr, meine Lippen schwebten unmittelbar vor ihren, nur eine winzige Bewegung und sie würden sich berühren.

„Und was wollen Sie dagegen tun?", fragte ich leise. Als ihr Blick sich von meinen leicht geöffneten Lippen löste und zu meinen Augen hoch flackerte, lag etwas Verlangendes, fast hungriges in ihm. Als hätte ich einen wunden Punkt getroffen, eine dunkle Seite in ihr geweckt.

Ihr Griff um meinen Kragen festigte sich und gerade als ich dachte sie würde endlich die Lücke zwischen unseren Lippen schließen, erklang der Nachrichtenton meines Handys. Zittrig entließ ich die angehaltene Luft aus meinen Lungen, als sie mich ihrem Griff entließ.

„Tut mir leid", sagte ich leise, ohne wirklich zu wissen, wofür genau ich mich entschuldigte. Sie sah mich einen Augenblick lang ausdruckslos an, dann wandte sie sich ab und hob ihre Tasche vom Boden auf. Ich folgte ihr wortlos nach draußen und ging ihr mit einigem Abstand nach. Sie wirkte nicht so, als ob sie angesprochen werden wollte, hatte ich sie verärgert? Ich spähte auf mein Handy und es war eine Nachricht von Louis, meinem Halbbruder, überrascht las ich sie.

Wo bist du? Ich wollte dich überraschen, aber du warst nicht zu Hause :/

Meine Augen weiteten sich in freudigem Unglaube, schnell tippte ich eine Antwort ein.

Ja mein Vater ist gerade in Hamburg und ich wohne woanders, seit wann bist du denn in Deutschland?!

Ich konnte nicht fassen, dass er so plötzlich auftauchte. Ich hatte ihn seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gesehen...ich blickte wieder zu meiner Lehrerin, die mir stur vorauslief. Viel weniger konnte ich jedoch fassen was gerade zwischen uns passiert war. Wir hätten uns fast geküsst! Sie hätte mich fast geküsst. Ich war nicht verrückt, da war wirklich etwas zwischen uns und mein Kopf hatte sich nicht alles eingebildet, immerhin. Aber sie sah nicht gerade glücklich aus... oh Gott würde sie mich jetzt aus ihrem Haus schmeißen? Ich rief mich zur Ordnung, es war sinnlos sich über solche Dinge im Moment den Kopf zu zerbrechen. Theoretisch war ja nichts passiert. Leider.

Ich stieg in den Wagen und schnallte mich an, erneut vibrierte mein Handy, ich blickte flüchtig auf den Bildschirm. Ein Grinsen legte sich auf meinen Mund, sobald ich die Worte las.

Seit einer Woche, schick mir die Adresse und ich hol dich heute Abend ab, wir gehen essen ;)

„Dein Freund?"

Ihre Frage traf mich völlig unvorbereitet und ich riss meinen Blick zu ihr. „Nein!", entfuhr es mir laut. Sie nickte kurz und startete dann den Motor, ich atmete aus und versuchte meine Nerven zu beruhigen.

„Wir sind nicht ...ich habe keinen Freund", sagte ich dann schließlich. Ich sah im Augenwinkel wie mich Frau Lorenz kurz musterte, sie sagte nichts was mich fast enttäuschte. Die Fahrt nachhause verlief in Schweigen. Vor meinem geistigen Auge spielte sich wieder und wieder die Szene ab. Ihr Körper an meinen gepresst, ihre Lippen so nah an meinen, ihr verlangender Blick.

Ruckartig hielt der Wagen an seinem Ziel an, Frau Lorenz stieg aus. Ich schnallte mich schnell ab und folgte ihr ins Haus. Offensichtlich ignorierte sie mich...war das etwa ihre Antwort?

~~~

Beim Klang der Klingel legte sich ein breites Grinsen auf meine Lippen. Ich hastete die Treppen hinunter und stellte fest, dass Julia bereits die Türe geöffnet hatte. Vor ihr ein junger, gutaussehender Mann in einem schicken, schwarzen Mantel. Er begrüßte Frau Lorenz, die sich ihre Verwirrung nicht anmerken ließ und die beiden gaben sich die Hand. Dann entdeckte er mich und das schiefe Grinsen, welches sich dann auf seine Lippen legte, weckte unzählige Erinnerungen in mir. Ich hatte ihn unheimlich vermisst. Ich lief ihm in die Arme und er drückte mich fest an seine Brust, bis es mir schwerfiel zu atmen.

"Lange nicht gesehen", meinte er schmunzelnd und ich grinste zu ihm hoch.

Ich gab Frau Lorenz kurz Bescheid, wann ich zu Hause sein würde und folgte dann Louis nach draußen. Er hatte einen Wagen für seinen Aufenthalt in Deutschland gemietet und so konnten wir in die Stadt fahren. Das letzte Mal als ich meinen Halbbruder, oder eher Ex-Stiefbruder gesehen hatte, lag bereits Monate zurück. Er wohnte in Paris und kam daher nur selten nach Deutschland.

Wir besuchten ein italienisches Restaurant, dessen Speisekarte mich etwas überforderte und während wir aßen und uns unterhielten, fühlte es sich einen flüchtigen Moment so an, als wären wir in seinem Apartment, wie früher als er noch in Deutschland gelebt hatte. Wie damals, als er mich aufgenommen hatte, nachdem er mich aus der toxischen Familie rettete, in der wir beide gesteckt hatten. Er war nicht der Erste gewesen, der realisiert hatte, dass etwas falsch mit meiner Mutter war, aber dafür der Erste, der sich wagte es auszusprechen.

Als ich mich schließlich überwand ihm zu sagen, dass ich vorhatte sie wiederzusehen, legte sich ein trauriger Ausdruck über seine Augen. "Du hast jedes recht dazu", hatte er dann gesagt und mich milde angelächelt. Nach einer lauten Fahrt in der Hotel California und Black Dog aus den Lautsprechern dröhnten, kamen wir dann vor Frau Lorenz' Haus schließlich zum Halt.

"Ich muss öfters nach Deutschland kommen", sagte er nach einer Weile des Schweigens.

"Bitte"

"Du könntest auch mal nach Paris kommen, mein Apartment ist definitiv ein Upgrade verglichen mit dem Letzten."

Ich lächelte, als ich in Erinnerungen schwelgte. "Ich mochte dein altes Apartment... bei der Dusche hätte ich mir zwar etwas mehr Sichtschutz gewünscht, aber ansonsten..."

"Du hast immer in der Badewanne geduscht", erinnerte er sich grinsend. Erneutes Schweigen trat ein als wir uns an die Zeit erinnerten. Es war schwer für uns beide gewesen, aber im Nachhinein war es vielleicht die beste Zeit meines Lebens. Bevor man mich fortgerissen und zu meinem Vater geschickt hatte.

"Ich sollte reingehen", durchbrach ich die Stille schweren Herzens, er nickte und beugte sich herüber, um mich zu umarmen. Seine starken Arme schlangen sich um meine Schultern und ich schloss die Augen bei dem vertrauten Gefühl.

"Tschüss", sagte er leise und lächelte schief, ich verabschiedete mich und stieg aus dem Wagen. Ich winkte und ging dann zur Haustüre. Hinter mir hörte ich, wie der Motor des Wagens wieder ansprang und leises Knirschen, als die Reifen über den Kies fuhren.

Ich drückte die Klingel und bibberte leicht in der Kälte, darauf wartend, dass Julia mir endlich öffnete. Nach einigen Minuten gab es immer noch keine Regung aus dem Inneren des Hauses. Ich hämmerte gegen die Türe, warum machte sie mir nicht auf? Endlich hörte ich wie die Klinke hinuntergedrückt wurde, die Tür schwang auf und... eine fremde Frau stand mir gegenüber. Ich sah sie verwirrt an und trat einen Schritt zurück. Wer zum Teufel war sie? Die zweifellos schöne, fremde Frau lächelte überrascht.

„Ach, du musst dann die Mitbewohnerin sein", meinte sie und gab mir Platz zum Eintreten. Ich trat verwirrt an ihr vorbei in das Haus und beäugte sie misstrauisch, wer war sie? Sie war vielleicht Mitte 20, hatte blondes, lockiges Haar und helle, blaue Augen die mich freundlich anblickten.

„Leah, schön dich kennenzulernen", stellte sie sich vor und ohne weiteres, drückte sie mich in einer herzlichen Umarmung die ich notgedrungen erwiderte. Ich stotterte irritiert eine Begrüßung und wollte eben fragen, wo denn Julia war, als mein Blick auf Frau Lorenz fiel, die die Treppen hinunterkam. Die Fremde, Leah, nahm eine Lederjacke Jacke von dem Kleiderständer und lief meiner Lehrerin entgegen.

„Ich denke ich sollte besser gehen", sagte sie an Julia gewandt und lächelte verschmitzt.

Mein Mund klappte auf, als die Fremde sich vorbeugte, ihre Lippen auf die meiner Lehrerin legte und die beiden einen durchaus intensiven Zungenkuss teilten. Der erste Schockzustand wurde von pochender Eifersucht übermannt. Eifersucht wie Gift in meinem Blut übernahm es meinen Verstand. Ich biss meine Zähne zusammen als ich sah, wie Julia ihre Hand besitzergreifend um die Taille der blonden Frau legte bevor sie sich wieder voneinander lösten.

„Danke für den Abend", hauchte Leah ihr verführerisch zu, Frau Lorenz grinste. Als sich die Blondine umwandte, warf sie mir noch zum Abschied ein strahlendes Lächeln zu, als ob nichts geschehen wäre. Dann schlug die Tür hinter ihr zu und eine fast schmerzhafte Stille legte sich über uns.

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𝔼𝕟𝕚𝕘𝕞𝕒Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt