Kapitel 2

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Etwas überwältigt war ich, als ich die große Glastüre aufstieß und das moderne Foyer betrat. Ich hatte die Schule zwar bereits besichtigt, doch als Schülerin das erste Mal durch diese Türe zu treten gab mir wieder einen ganz anderen Eindruck. Ich dachte an meine alte Schule zurück und an die verfärbten Fliesen, als ich meinem verschwommenen Spiegelbild auf den blanken Boden entgegenblickte. Ich strich den Stundenplan etwas glatt und seufzte leise, als ich anschließend meinen Blick zur Treppe wandte. Da alles offen gehalten war, konnte ich von hier aus bis zum obersten Stock blicken. Die nassen Sohlen meiner Turnschuhe verursachten ein leises Quietschen, als ich zielstrebig die Stufen hinauf stieg. Nach dem ersten Treppenabsatz, bog ich nach links in einen Gang hinein, ich stockte als mir ein zu vertrauter Name ins Auge sprang.

Philipe Lamar - Schulträger

Ein unwohles Gefühl beschlich mich und ich wandte mich schnell ab. Den eigenen Vater als Schulführer zu haben, war nichts was man sich wünschte. Als ich an der hölzernen Tür des Klassenzimmers ankam, spürte ich, wie die Nervosität in mir sich physisch bemerkbar machte. Kalte Hände, als ich sie anhob um zu klopfen, sah ich, wie sie sogar etwas zitterten. Ich stieß gedehnt die Luft aus und sammelte mich, dann klopfte ich, zaghaft.

"Herein", erklang es gedämpft aus dem Raum.

Ich hatte das Gefühl nicht mehr einatmen zu können als ich schließlich eintrat. Ich schaute nur flüchtig zu den Schülern, deren Blicke neugierig auf mir lasteten. Die Tische waren stufenförmig angelegt, sodass jeder einen guten Blick auf die Tafel hatte, es erinnerte mich an einen kleinen Hörsaal, denn tatsächlich waren es nur wenige Schüler - etwa 20.

"Ach, da bist du ja, ich hatte schon befürchtet du hättest dich verlaufen", beim Klang der Stimme, zuckte ich zusammen. Ich blickte zum Lehrerpult und erstarrte einen Augenblick lang.

Es war die Frau, die ich vorhin vor der Schule getroffen hatte! Da stand sie. Lehnte lässig an dem Tisch und hatte die langen Beine überkreuzt. Ich war nicht imstande auch nur ein einziges Wort auszusprechen. Die Frau, die offensichtlich meine neue Lehrerin zu sein schien, fand dies wohl ausgesprochen amüsant, denn ich sah wie sich ein Grinsen auf ihre vollen Lippen legte, als sie sich geschmeidig vom Pult abstieß und auf mich zukam.

"Esme Lamar, richtig?", ihre Stimme war weich, wie fließender Samt. Etwas irritiert von ihrer makellosen französischen Aussprache, nickte ich nur als Antwort. "Mein Name ist Julia Lorenz. Ich bin die Tutorin dieser Klasse und unterrichte in Deutsch und Sport. Falls du irgendwelche Fragen haben solltest, kannst du dich gerne an mich wenden", sie streckte mir die Hand entgegen und ich bemerkte zwei Ringe an jeweils ihrem Zeigefinger und Daumen.
Als ich ihre warme Hand ergriff, lief mir ein Schauer über den Nacken. Sie musterte mich, vielleicht da meine Körpertemperatur an meinen Fingerspitzen gefühlte 2° betrugen. Ich ließ ihre Hand los und blickte sichtlich verlegen und scheu in den Raum. Ich meinte ein leises Lachen zu hören, als meine Lehrerin einen Schritt zurücktrat und anschließend zu den Sitzplätzen deutete.

"Setz dich, Esme", sie klang gefasst, doch die unbestreitbare Autorität, die in ihrem Tonfall mitschwang, ließ mich sofort gehorchen. Ich steuerte also automatisch auf einen Platz in der letzten Reihe zu und ließ mich in einen Stuhl sinken, direkt neben einem Mädchen mit langen schwarzen Haaren. Ihrem Erscheinungsbild nach hatte sie asiatische Wurzeln. Sie lächelte, als ich sie möglichst freundlich anblickte.

"Hallo!", begrüßte sie mich euphorisch.

"Hi", ich kaue nervös auf der Innenseite meiner Backe.

"Ich bin Kenia, schön dich kennenzulernen. Wir haben total lange keine neue Schülerin bekommen, deshalb war ich ziemlich aufgeregt als ich erfahren habe, dass jemand neues kommt", plapperte sie darauf los und ich unterdrückte einen Seufzer.

"Ah... ok", sage ich nur.

"Ja, ich kann dir später mit den Räumen und so helfen! Nur wenn du Hilfe brauchst oder willst, natürlich", sie grinst zu mir hoch und jetzt brach doch ein Lächeln meine sonst eher distanzierte Miene. Sie wirkte, aufrichtig freundlich.

"Das wäre nett, danke".

Deutsch war zum Glück einer meiner Stärken. Interpretation, Analyse oder Inhaltsangaben, ich schrieb sie nicht gerne, aber mein Ehrgeiz trieb mich dazu an, meinen eigenen Erwartungen gerecht zu werden. Doch meine erste Unterrichtsstunde machte mir bewusst, wie sehr ich doch hinterherhinkte. Ein Wechsel von einer staatlichen Klinikschule auf eine gehobene Privatschule war nun Mal kein Kinderspiel.
Frau Lorenz zog die Stunde mit eiserner Hand durch. Ein kalter Blick durch das Klassenzimmer und der Anfang eines Gespräches wurde im Keime erstickt. Überraschender Weise herrschte trotzdem eine angenehme Atmosphäre, solange niemand die Grenze überschritt und die Schüler schienen gewöhnlich keine Angst oder Ähnliches vor Frau Lorenz zu haben. Vielleicht lag das an ihrer offenen Art, die Fähigkeit auf den ein oder anderen Witz einzugehen und mitzulachen oder ihre humorvollen Anmerkungen am Rande. Es war erfrischend und ich hoffte, dass die restlichen Lehrer ebenso kompetent und sympathisch sein würden.

Als es schließlich zu Ende der Stunde klingelte, verließ ich als Letzte den Klassenraum mit Kenia, die von dem Moment an als der Unterricht beendet war, anfing mir die Ohren vollzuplappern. Als wir am Lehrerpult vorbeiliefen, wurde ich jedoch nochmal von Frau Lorenz zurückgehalten, die ein paar wenige Worte an mich richten wollte.

Die Tür schloss sich leise hinter Kenia, die draußen auf mich warten würde. Elegant, war das Wort, das mir sofort durch den Kopf ging, als ich die schlanke Gestalt meiner Lehrerin beobachtete, die mit wenigen Schritten zu mir gelangte und vor mir stehen blieb. Elegant und unglaublich einschüchternd. Und obwohl sie vermutlich ohne Absätzen nicht viel größer war als ich, hatte ich aus dieser Distanz das Gefühl, ihre Präsenz allein würde sich vor mir auftürmen.

"Ich wollte dir nur sagen, dass ich dir die nächsten Wochen zusätzliche Blätter mit teilweise Zusammenfassungen reichen werde, damit du den Anschluss schneller findest", erklärte sie mir. Mir fiel auf wie ihre Stimme nun, da sie nicht die Aufmerksamkeit der Klasse erhalten musste, viel ruhiger war.

"Ok, danke", sagte ich.

"Gut.... dann darfst du gehen Esme, ich wünsche dir einen schönen restlichen Schultag", ihre Augen waren so undurchdringlich, dass sie mich geradezu in den Bann zogen und ich brauchte eine Sekunde bis ich mich diesem mir bisher unbekannten Effekt entziehen konnte. Frau Lorenz blickte mich mit einem nachdenklichen Lächeln an, dann zwinkerte sie mir zu. Die Hitze schoss mir schlagartig wieder in die Wangen und ich betete, dass mir die Verlegenheit nicht allzu offensichtlich im Gesicht stand, als ich den Griff meiner Tasche ein Stück weit meine Schulter hochschob.

"Danke, Ihnen auch", presste ich noch heraus, um das Klassenzimmer so schnell wie möglich verlassen zu können. Ich hätte schwören können, dass sie belustigt meine Reaktion beobachtete, bevor ich mich umgewandt hatte. Kein Wunder, ich benahm mich wie der letzte Idiot.

𝔼𝕟𝕚𝕘𝕞𝕒Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt