Kapitel 42

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*13 Monate später*

"Ja...nein, ich hör dir zu", sprach ich ins Telefon während ich über den blank geputzten Boden eilte, meine vollgestopfte Sporttasche von meiner Schulter baumelnd. Wie waren Flughäfen nur immer so sauber? Nach meinem Gate Ausschau haltend, blieb ich vor einer Anzeigetafel stehen und musterte die aufgelisteten Flüge.

"Naja auf jeden Fall warte ich hier auf Elias. Er meinte er holt mich ab, aber so wie ich ihn kenne irrt er auf der anderen Seite der Stadt herum", Kenias helles Lachen ließ mich ebenfalls lächeln. Ich hatte sie noch nie so glücklich gesehen wie seitdem sie mit Elias zusammengekommen war. Irgendwie hatte es mich nicht überrascht, dass er in Wahrheit nicht mich auf dem Schulhof angestarrt hatte. Vielmehr hatte er an mir vorbeigeschaut, direkt auf Kenia. Irgendwann hatte er sich dann auch getraut sie anzusprechen und nun waren die beiden schon für eine ganze Weile in einer festen Beziehung. Ich freute mich maßlos für meine Freundin, dass sie solches Glück gefunden hatte, auch wenn sie es dann fand, als ich meines verlor.

"Ja....", sie seufzte träumerisch, "bist du schon im Flieger?".

"Nein ich schau gerade nach dem Gate...", ich kniff die Augen leicht zusammen und konzentrierte mich. Da war er ja, AirFrance F-GSPL nach Paris, ich grinste triumphierend.

"Dann lass ich dich lieber, bevor du noch in den falschen Flieger steigst, aber halt mich auf dem Laufenden, ja?", fügte sie eifrig hinzu und ich lachte in den Hörer, "Natürlich".
Wir verabschiedeten uns und ich schob mein Handy zurück in die hintere Hosentasche, während ich mich schon auf den Weg zum Gate machte. Kenia ging das Gesprächsmaterial nie aus, dabei hatten wir erst gestern Stunden miteinander geredet. Es war schön gewesen, sie zu besuchen. Als ich nach meinem Abschluss nach Frankreich zu Louis ins Apartment eingezogen war, hatte ich zunächst befürchtet, dass die Freundschaft zu Kenia über die Distanz verloren gehen würde. Diese Sorge hatte sich als vollkommen überflüssig entpuppt, denn Kenia und ich telefonierten und besuchten uns seitdem regelmäßig.

Den Umzug nach Frankreich hatte ich mit gemischten Gefühlen entgegengesehen. Einerseits hatte ich mich auf die Wiedervereinigung mit meinem Halbbruder gefreut, ebenso wie auf den Abschied von meinem Vater. Auf der anderen Seite bedeutete es eine extreme Umstellung und eigentlich verabscheute ich Veränderungen generell. Trotzdem versuchte ich optimistisch zu bleiben. Ein klarer Schnitt, damit etwas Neues entstehen kann. Aber tief in meinem Inneren wusste ich, dass es so etwas wie einen klaren Schnitt nicht gab. Vielleicht erhofften wir ihn uns alle, wie mein Vater mit meiner Mutter und mir. Wie ich mit Julia als sie fortgegangen war. Zum ersten Mal hatte ich verstanden, warum man von einem gebrochenen Herzen sprach. Meines hatte sich so angefühlt als hätte man es zu tausend Teilen geradewegs in meiner Brust gesprengt, sodass sich die Splitter schmerzhaft in meine Brust bohren konnten. Ich wusste nicht, wo sie heute war und wer sie war. Hatte sie sich dem Willen ihres Bruders gebeugt und sich wieder dem Familiengeschäft angeschlossen? Ich zweifelte daran, dass sie ihm diesen Gefallen tat, vor allem, nachdem er unsere Beziehung bei meinem Vater gemeldet hatte. Oft dachte ich darüber nach, was gewesen wäre, wenn ich an jenem Tag nicht mit Julia mitgegangen wäre. Ich hatte sie schließlich dazu gedrängt. Nachdem Simon mich, verdächtig jünger als Julia, gesehen und ich ihm meinen Namen praktisch auf dem Silbertablett präsentiert hatte, musste er nur noch einen einfachen Anruf bei dem Schuldirektor tätigen, um Julia ihrer Stelle zu berauben. Sie hatte recht behalten als sie gesagt hatte, wie stur ihr Bruder war. Wie konnte ein Mensch so hinterhältig und skrupellos sein, so weit gehen, um an sein Ziel zu kommen?
Mein Vater hatte keine Anzeige erstattet, was für ein Licht würde denn solch ein Drama auf seine ach so heilige Schule und ihn als Direktoren werfen? Nach dem Vorfall hatte er mich direkt nach Frankreich abwimmeln wollen, doch da ich meinen Abschluss noch nicht hatte war er rechtlich dazu verpflichtet mich so lange bei sich zu dulden. Es war schrecklich gewesen, er hatte mir keinen Freiraum gegeben und nicht im geringsten berücksichtigt wie es um meine Psyche stand. Alles was für ihn zählte, war, dass ich meine Prüfungen bestand, sodass er mich loshatte. Auch wenn ich mich zu fast nichts hatte aufraffen können, hatte ich doch mit Mühe und Not den Abschluss ergattern können, worauf ich zugegeben wirklich stolz auf mich war.

"Könnte ich ihren Boardingpass sehen?", die in Uniform gekleidete Frau sah mich abwartend an und ich riss mich von dem Anblick der Landebahn und meinen Gedanken fort. Schnell hielt ich mein Ticket über den Scanner und trat durch die kleine Drehtüre. Ich musste mich zusammenreißen, sonst würde ich mich wirklich noch verirren. Immerhin war ich im richtigen Flieger, rechtzeitig. Ich schritt durch die Passagierbrücke, kurz betätigte ich den Knopf an dem Kabel meiner Kopfhörer und schon lief wieder angenehme Musik...so ließ es sich reisen. Ich blickte durch das Glas wieder hinaus auf die graue Flugbahn, die sich kaum unter dem trüben Himmel abzeichnete. Das Wetter in Deutschland ließ wirklich zu wünschen übrig, während in Frankreich die Leute in Badehose auf die Straße gingen. In der Reflexion sah ich mein eigenes Gesicht. Meine fuchsroten Haare trug ich inzwischen in einem Bob der knapp zu meinen Schultern reichte. In den letzten Monaten hatte ich meine Haare immer so getragen, es war am einfachsten und sah auch nicht schlecht aus.

Ich schenkte der Stewardess am Eingang des Flugzeugs ein freundliches Lächeln als sie mich begrüßte und trat in den engen Gang. Das Innere war angenehm kühl im Gegensatz zu der stickigen Sommerluft draußen. Vor mir lief eine Frau, sie war etwas kleiner, mollig und zog hastig einen Trolley hinter sich her wodurch ich auf meine Füße achten musste. Sie hielt an und machte einen langen Hals um die Sitznummer zu prüfen, dann bückte sie sich und schwang den Koffer in die Höhe. Es traf mich volle Kanne und ließ mich nach hinten stolpern. Dumpf landete ich auf mit dem Hintern auf dem Boden. Meine Güte, ist sie blind?! 

"Passen sie mit ihrem Gepäck auf, sonst fliegen gleich noch Köpfe", tadelte auf einmal eine andere Stimme unmittelbar dahinter. Die Frau, die mich mit ihrem Koffer niedergemäht hatte, nuschelte eine Entschuldigung und ließ sich dann auf ihren Sitz nieder. Ich blickte hoch, um zu sehen, wer sie so angeherrscht hatte und mein Atem stockte, mein Herz blieb stehen. Es war als hätte man kurz die Uhr angehalten.

Wir starrten uns an. Es war ein Augenblick voller Wunder, Erinnerungen und Erkenntnis die wir teilten, ohne nur ein einziges Wort auszusprechen. Ein Moment, wo sich unsere Wege schnitten und unsere Blicke sich begegneten, für ein weiteres Mal. Als dieser Augenblick jedoch vorbeizog breitete sich ein vertrautes Lächeln auf ihren vollen Lippen aus. Dieses Lächeln war alles was es brauchte um die Mauern einzureißen die ich versucht hatte aufzubauen, um nie wieder den Schmerz spüren zu müssen. Ein Lächeln an welches so viele Emotionen und Erinnerungen geknüpft waren, dass mich der Anblick schier überwältigte.

"Alles in Ordnung?", fragte Julia, in ihrer samtweiche Stimme klang obwohl sie sichtlich gerührt war dieser typische belustigte Unterton mit, den ich so maßlos vermisst hatte. Ich nickte nur, zu überwältigt von der Situation. Nie, nie hätte ich gedacht, ich würde sie wieder sehen und doch stand sie hier genau vor meinen Augen. Kein Jahr älter sah sie aus, das freche Funkeln in ihren Augen nicht im geringsten abgeklungen. Ich starrte sie an, bis sie sich als erste zusammenriss, mir schmunzelnd die Hand hinhielt und als ich diese ohne zu zögern ergriff, war das die Versöhnung. Sie zog mich auf die Beine und schloss mich ohne weiteres in ihre Arme. Ich presste mich an sie, aus Angst, dass sie nicht echt war, dass alles nur ein Traum war. Aber dieser unverkennbare Duft...die Art wie ihr Atem an meinem Ohr kitzelte, keine Täuschung auf der Welt könnte dieses Gefühl imitieren. Und spätestens als ich hörte, wie sie tief Luft holte, dann erleichtert aus stieß und die Worte so sanft neben meinem Ohr sprach, dass diese geradewegs durch meine Gehörgänge in mein Inneres gelangen und dann ihre Wärme in meinem gesamten Körper ausbreiten konnten, wusste ich, dass es kein Traum war. Das war unsere Versöhnung, und noch so viel mehr...

Ende

Vielen herzlichen Dank an alle die bis hierhin gelesen haben! Ich hoffe euch hat meine Geschichte gefallen :) 

𝔼𝕟𝕚𝕘𝕞𝕒Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt