"Möchten Sie außerdem noch etwas?"
Die etwas ältere Dame warf das eine Ende ihres gelben Schals über ihre linke Schulter und fing an in ihrer Handtasche zu kramen. "Nein danke", antwortete sie und zog schließlich ihren Geldbeutel heraus um mir ein paar Münzen auf die Theke zu schieben. Ich reichte ihr das Rückgeld und lächelte ihr noch ein letztes Mal freundlich zu, bevor ich mich ihrer Bestellung widmete. Die Arbeit in diesem Café hatte mir vom ersten Tag an gefallen. Der Laden "Fevral", war durch seine Lage zwar beliebt, aber nie wirklich überfüllt. Es herrschte stets eine angenehme, warme Atmosphäre die durch die bunten Wände und Landschaftsbilder noch verstärkt wurde. Die Fenster und Möbel waren im altmodischen, dunklen Bauholz angefertigt, was den ein oder anderen Besucher in eine nostalgische und friedliche Stimmung versetzte. Es war etwas extravagant, aber genau das hatte mich angesprochen als ich diesen kleinen Rückzugsort zum ersten Mal entdeckt hatte.
"Bitteschön", ich stelle die dampfende Tasse vor der Kundin auf den Tisch, bedacht keinen kostbaren Tropfen zu verschütten.
An Wochentagen, war das Café zu dieser Zeit meist nicht stark besucht und ich verbrachte viel Zeit damit einfach nur an der Theke zu stehen, aus dem Fenster zu starren und vor mich hin zu träumen. Die erste Woche an meiner Schule war beinahe überstanden! Dass ich tatsächlich Anschluss in der Klasse finden würde, hätte ich nie erwartet. Tatsächlich wäre dies vermutlich auch nicht geschehen, hätte Kenia mich nicht direkt am ersten Tag so enthusiastisch angesprochen und in ein Gespräch verwickelt, das wir die ganze Pause lang weiterführten. Dr. Berens wäre stolz auf mich. Ich musste schmunzeln, als ich an den gutmütigen Arzt dachte, der mich wahrscheinlich besser kannte, als ich mich selbst. Wie viele Stunden hatten wir geredet, in diesem dämmrigen Büro am Ende des grellen Flurs der Klinikschule. Viele. Er war ein netter Kerl, auch wenn es seine Arbeit war, ließ er mich spüren, dass er sich aufrichtig um mich sorgte.
"Hi, Em", die fröhliche Stimme von Jonah riss mich aus meinen Tagträumen und ich zuckte erschrocken zusammen. Er stand weit grinsend vor mir, mit zerzaustem, schwarzem Haar, einem weißen Strickpullover aus dessen Kragen die Kabel seiner Kopfhörer baumelten und diesen leuchtenden, blauen Augen die augenblicklich jeglichen Schatten in mir zu verscheuchen schienen.
"Hey", ich grinse zurück und er beugt sich über die Theke, um mir einen flüchtigen Kuss zu geben.
"Rate mal, wem ich über den Weg gelaufen bin vorhin", er umrundete die Theke, um sich neben mich zu stellen. Ich zuckte zur Antwort ahnungslos mit den Schultern.
"Deinem Vater"
"Was hat er dieses Mal gesagt?", seufzte ich.
Jonah lachte und die kleinen Grübchen die dabei an seiner Wange entstanden, waren mehr als nur niedlich. "Nichts, er hat mir nur sein Pseudolächeln gezeigt. Ich glaube, er hält mich immer noch für einen Psychopathen."
Ich rollte mit den Augen, da mir diese Vorstellung bei meinem Vater sogar äußerst realistisch vorkam. Seitdem Moment wo er herausgefunden hatte, dass ich eine Beziehung mit einem drei Jahre älteren Jungen aus der Klinik führte, war er dagegen gewesen. Für ihn waren alle Menschen dort "Freaks", mich eingeschlossen.
"Also, wie ist die Schule so?", er drehte sich zu mir, um mich anblicken zu können. Helle, blaue Augen musterten mich liebevoll - er war einer der wenigen, dem ich lange in die Augen blicken konnte, ohne mich dabei unwohl zu fühlen.
"Es geht so", antwortete ich, offensichtlich war er nicht zufrieden mit meiner Aussage, denn er runzelte fragend die Stirn.
Ich seufzte, "Schwer...komisch...anders. Es ist nur Unterricht, weißt du..?", ich kaute nachdenklich auf der Innenseite meiner Wange während ich die letzten Tage vor meinem inneren Auge Review geschehen ließ. Jonah nickte verständnisvoll, "Das glaube ich dir, ist schließlich 'ne Privatschule. Aber du bist nicht dumm Em, ich bin sicher du findest bald rein", er legte einen Arm um meine Schultern und gab mir einen aufmunternden Stoß.
"Danke, wie nett, dass du mich nicht für dumm hältst", antwortete ich sarkastisch woraufhin er schallend lachte. "Ich bin eben ein netter Typ", er grinste mich verschmitzt an und ich verdrehte lächelnd die Augen.Jonah wartete einige Minuten, bis ich meine Schicht beendet hatte und wir gemeinsam den Laden verlassen konnten. Wir schlenderten Hand in Hand während er sich über seine 12-jährige Schwester beklagte und ich seinen Erzählungen, so leid es mir tat, nur mit halbem Ohr folgen konnte. Als wir an seinem kleinen Apartment ankamen, wusste ich teils nicht mehr worüber er genau redete und gab nur noch zustimmende Geräusche von mir.
Seine Wohnung roch nach einer Mischung aus Farbe und geraspeltem Holz, verursacht durch Jonahs Versuch seine Wohnung etwas aufzupeppen. Er warf seine Jacke über einen Hocker und begab sich sofort in die etwas dämmrige Küche, um eine Tiefkühlpizza in den Ofen zu schieben. Ich stellte mich an das Fenster im Wohnbereich und betrachtete den kümmerlichen Innenhof, als Jonah von hinten seine Arme um mich schlang und einen Kuss auf meine Halsbeuge platzierte. Bevor ich mich versah, stolperten wir knutschend zu seinem Bett und mein Oberteil flog im weiten Bogen auf die andere Seite des Zimmers.
~~~
Vorsichtig strich ich mit meinen Fingern über seine Bauchmuskulatur und lauschte seinem Herzschlag, der noch etwas schneller war als gewöhnlich. Flashbacks vor meinem inneren Auge von der Zeit, als dies unser verbotenes Ritual war, um die schleppende Zeit innerhalb karger Klinikräume zu überbrücken. Zwei hormongesteuerte Jugendliche angetrieben von Lust ...oder Einsamkeit. In der Klinikschule war jegliche Beziehung zwischen Jungen und Mädchen untersagt, was auch der Grund dafür war, dass Jonah schließlich suspendiert wurde -worüber er sich jedoch regelrecht gefreut hatte. Unsere Beziehung mochte auf andere oberflächlich gewirkt haben und wenn ich jetzt über mein altes Ich reflektierte, musste ich gestehen, dass ich mich vermutlich nur auf Jonah eingelassen hatte, da die Einöde der getakteten Tage und die langen Sitzungen und Kurse mich so gelangweilt hatten, dass ich jegliches Abenteuer angenommen hätte. Zuerst war es ein wahrhaftiges Abenteuer, verboten und aufregend hatte es auf mich gewirkt, doch mit der Zeit kamen wir uns immer näher und wir wurden zum gegenseitigen Halt. Ich erfuhr nach einigen Gesprächen, dass Jonah nach einer Alkoholvergiftung in die Klinik eingewiesen wurde, er sagte mir immer seine Eltern wären diesen Themen gegenüber sehr empfindlich eingestellt und hätten gedroht ihm seine finanzielle Absicherung für sein Studium zu verweigern, ließe er sich nicht auf die Therapie ein. Er war der erste nach meinem Stiefbruder, der mich wirklich zu verstehen schien und er war so geduldig als er merkte, dass ich ihm vertrauen wollte, aber einfach nicht konnte.
"Die Pizza!", ich erschrak mich heftig, als Jonah plötzlich aufsprang und stolpernd seine Boxershorts hochzog, um in die Küche zu flitzen. Ich rappelte mich auf und suchte meine Sachen zusammen. Mich erwartete ein halbnackter und sichtlich gestresster Jonah, der das Blech aus dem Ofen zog und dann erleichtert feststellte, dass die Pizza nicht verkohlt war. Wir setzten uns auf seinen kleinen Balkon und aßen schweigend, bis mein Handy anfing den Refrain von "Eternal Sunshine" durch den Raum zu plärren.
Ich warf einen Blick auf das Display. "Mein Vater", sagte ich zu Jonah und nahm den Anruf widerwillig an, mit einer Vorahnung was er mir sagen würde. "Ja?", versuchte ich möglichst unschuldig zu klingen.
"Esme, wo bist du?", er klang verärgert.
"Ich hab dir doch eine SMS geschickt, ich bin bei Jonah", sagte ich und lugte zu meinem Freund hinüber, der unbeteiligt seine Pizzarinde kaute.
"Habe ich nicht gesehen, komm jetzt bitte sofort nachhause, du musst morgen früh aufstehen". Ich war froh, dass er mein genervtes Augenverdrehen nicht sehen konnte, als ich eine monotone Antwort in den Hörer sprach und dann auflegte. "Sorry, ich muss gehen", teilte ich Jonah mit, als ich mir meine Jacke schnappte. "Mhm", machte er mit vollem Mund, ich grinste belustigt, küsste ihm zum Abschied auf die Wange um den Krümeln an seinen Lippen auszuweichen und verließ dann letztendlich den Apartmentkomplex.
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𝔼𝕟𝕚𝕘𝕞𝕒
RomanceEsme Lamar, 18 Jahre alt, wird auf die protzige Privatschule ihres Vaters versetzt. Nach längerem Klinikaufenthalt erhoffen Esme und ihr Vater sich dadurch, dass ihr Leben sich durch den Wechsel normalisieren wird. Doch diese Hoffnung wird geradeweg...