Kapitel 19

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"Esme ich weiß, dass du nicht hier sein willst, aber es ist besser für uns beide, wenn du etwas kooperieren könntest, ok?", Dr. Berens lächelte mich aufmunternd an, seine matten Augen unter den buschigen Brauen musterten mich wachsam. Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen, alles war genau so wie ich es in Erinnerung hatte. Das abstrakte, blauviolette Bild, das nicht richtig eingerahmt war, sodass ein schmaler weißer Streifen am rechten Rand verblieb. Ich starrte ihn oft an, wenn ich Dr. Berens nicht in die Augen schauen konnte.

"Ich brauche keine Therapie mehr", sagte ich schließlich. Dr. Berens legte den Kopf leicht schief, sein Lächeln wurde milde.

"Vielleicht solltest du mal mit deinem Vater reden", meinte er dann ruhig.

"Vielleicht sollten Sie mal mit meinem Vater reden", murmelte ich. Kurz meinte ich Belustigung in seinen Augen zu lesen, bevor er wieder eine professionelle Miene aufsetzte. Vielleicht gab er mir gedanklich sogar recht. Wenn hier jemand Therapie brauchte, dann war es mein Vater.

"Ich sehe, dass du wütend bist", sagte er schließlich, "weil dein Vater dich zur Therapie schickt?"

Ich entließ gedehnt die Luft, "Weil er mich behandelt, als wäre ich nicht imstande eigene Entscheidungen zu fällen. Ich bin 18 und er kann mich nicht einmal für 10 Tage alleine zu Hause lassen, weil er denkt ich würde irgendeinen mentalen Zusammenbruch erleiden oder das Haus in Brand setzen. Als der Anruf kam, wollte er mir zuerst nicht mal das Telefon geben, ginge es nach ihm hätte ich wahrscheinlich nie etwas davon erfahren", Dr. Berens hört aufmerksam zu, seine Beine hat er übereinander geschlagen, die Hände in seinem Schoß gefaltet. Seine Ruhe war fast ansteckend.

"Denkst du, dass er dich eventuell beschützen möchte?", wandte er ein.

"Sein achtjähriges Kind verlassen und es seiner psychisch kranken Mutter überlassen, klingt eher so, als würde er sich selbst beschützen wollen", entfuhr es mir.

"Kein Illeismus", erinnerte er mich. Ich unterdrückte ein Augenrollen.

"Er hat mich als ich 8 war verlassen und mich meiner psychisch kranken Mutter überlassen", korrigierte ich mich und Dr. Berens nickte.

"Wieso hast du beschlossen deine Mutter zu treffen?", fuhr er fort.

Mein Blick fand wie von selbst den weißen Streifen des Bildes. Vermutlich wusste Dr. Berens genau wann und wieso ich ihn anblickte, es war schließlich seine Arbeit Muster in meinen Handlungen zu erkennen. "Ist es so verwunderlich, dass ein Kind seine Mutter wieder sehen möchte?", wich ich ihm aus.

"Ich glaube du verstehst, dass es sich hierbei um eine etwas andere Situation handelt."

Ich ließ mir Zeit für meine Antwort. Trübes Tageslicht schien zwischen den dicken Vorhängen in das dämmrige Zimmer. Staubpartien hingen in der Luft, sanken zu Boden....ich erinnerte mich an das Gespräch mit Frau Lorenz.

"Meine Mutter war krank. Früher habe ich das nie wirklich verstanden...aber sie war krank."

"Du meinst, sie tat alles, weil sie nicht anders konnte...?", hakte er nach.

"Ich meine, ich habe es nie in Erwägung gezogen...wenn ich nicht hingehe, werde ich wahrscheinlich nie Ruhe finden. Ich werde mich immer fragen, was passiert wäre, wenn ich sie noch einmal getroffen hätte", ich schaute ihn an. Sein Anzug saß makellos, seine Krawatte, seine Uhr. Ich blickte zurück zum weißen Streifen als ich fortfuhr, "Ich weiß, dass es irrational ist, aber ein Teil von mir glaubt es immer noch nicht...", ich verstummte.

"Ich habe gehört, dass du erst deine Mutter nicht besuchen wolltest, was hat deine Meinung geändert?", ich blicke ihn misstrauisch an. Ich hörte meinen Vater durch ihn sprechen, wollte er wissen, ob mir jemand Dinge einredete?

"Ich wollte sie von Anfang an sehen. Andere wollten es nicht."

"Andere?"

"Mein Vater...und Jonah". Es gab aber einen Unterschied: Mein Vater wollte mich von meiner Mutter fern halten, um sie gleichzeitig aus seinem Leben auszugrenzen. Jonah hingegen wollte mich schützen.

"Wie geht es dir und Jonah?", er beugte sich etwas vor, lehnte sich auf sein Bein. Die Stirn in Falten gelegt sah er mich mit überzeugender Interesse an.

"Geben sie mir jetzt Ratschläge über mein Liebesleben?", er schüttelte lächelnd den Kopf, "Nein".

Ich biss mir auf die Unterlippe, "Ich denke es ist vorbei", gab ich schließlich zu. Es ging leicht über die Lippen.

"Wie fühlst du dich deshalb?", seine tiefe Stimme erinnerte mich an die eines Vorlesers, wie in einer dieser Hörbücher, denen ich als Kind während langen Autofahrten lauschte.

"...haltlos...?", sagte ich schließlich.

"Und?", er bemerkte mein Zögern, lehnte sich zurück in seinen Stuhl, sein Blick verließ mich für keinen Augenblick.

"Frei"

~~~

Als ich schließlich aus dem Raum auf den Flur trat, war ich kurzzeitig geblendet von dem grellen Neonlicht. Ein Mädchen lehnte an der Wand, den blauen Plüschhausschuhen nach zu urteilen war sie stationär. Ich hielt ihr die Türe auf, hörte Dr. Berens' Begrüßung bevor sie sich wieder hinter mir schloss. Ich wurde fast nostalgisch als ich an der Tür zu den Schlafräumen vorbeilief, kurz bevor ich jedoch zum Treppenhaus abbog, sah ich eine bekannte Gestalt etwas weiter vorne auf einem Stuhl sitzen. Jonah war nicht alleine, etwa 7 Jugendliche standen um ihn herum und unterhielten sich recht laut. Vermutlich wurde er von seinen Eltern gezwungen ein Meeting zu besuchen. Ich wandte schnell mein Gesicht ab, zu spät.

"Esme?"

Ich hörte Schritte als er mir entgegenkam, ich drehte mich um und lächelte ihn gespielt überrascht an. "Hi", sagte ich verlegen. Plötzlich schien er sich zu erinnern, auf welchem Stand wir waren und er schien fast zu bereuen mich angesprochen zu haben.

"Kannst du jetzt reden?", fragte er, eine schwarze Strähne seiner lockigen Haare hing ihm über das rechte Auge und ich unterdrückte den Impuls sie ihm aus der Stirn zu streichen. Ich nahm meinen Mut zusammen und schluckte jegliche Gefühle der Angst hinunter.

"Du hast recht, wir funktionieren nicht", meine Stimme klang mir mit einem Mal fremd. Jonah zog die Augenbrauen in Verständnislosigkeit zusammen,"Was?"

"Es funktioniert nicht mehr."

Jegliche Wut und Härte verschwand aus seinem Blick, als er verstand, "Machst du gerade Schluss?", fragte er irritiert. Seine Augen machten mir das Reden schwer.

"Ja... tut mir leid", es war leise, doch er hatte es gehört. Er nickte langsam und blickte mich ein letztes Mal an, bei dem Ausdruck der in seinen Augen lag, spürte ich einen schmerzhaften Kloß in meinem Hals formen. Er kehrte sich ohne ein Wort zu sagen um. Die anderen Jugendlichen waren bereits in den Raum eingetreten. Er öffnete die Tür....und er verschwand.

Danke fürs Lesen und frohe Weihnachten!!
Zur Feier des Tages mal zwei Kapitel ;)

𝔼𝕟𝕚𝕘𝕞𝕒Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt