Kapitel 15

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Ein Stoß in meine Hüfte ließ mich zusammen schrecken, ertappt wandte ich den Blick vom Fenster ab wo ich eben noch in den regnerischen Himmel geblickt und vor mich hin geträumt hatte. Herr Messners graues Gesicht hatte eine tiefe Furche zwischen seinen Brauen die jetzt deutlich hervortrat als er mich verärgert anstarrte.

"Was will er wissen?", fragte ich an Kenia mit gesenkter Stimme.

"Was in dem Kapitel die Hauptaussage ist", flüsterte sie zurück. Ich überlegte kurz, wollte jedoch nicht die Geduld meines Lehrers überstrapazieren. Ich räusperte mich, "Ähm...one central message in the 12th chapter is most probably the racist mindset of white people in the south... Alexandra is just a representative for the conservative, white community". Die Furche glättete sich etwas und ich entließ erleichtert die Luft als er seinen Fokus von mir nahm und mit dem Unterricht fortfuhr.

"Alles ok?", fragte Kenia mich leise.

"Ja, ich erzähl's dir nache..."

"RUHE!", ich zuckte zusammen als Herr Messner durch das Klassenzimmer brüllte und verstummte abrupt. Er schien sich zu überlegen, ob er uns eine Standpauke halten sollte, schien sich jedoch dagegen zu entscheiden und schüttelte nur resigniert den Kopf. Es klingelte glücklicherweise nach einigen Minuten zur Pause und Kenia und ich stahlen uns ohne weiteren Ermahnungen davon.

"Warte, die Lorenz war bei dir Zuhause zum Abendessen?!", fragte mich Kenia ungläubig, nachdem ich ihr die gestrigen Geschehnisse grob geschildert hatte, wir traten auf den Flur und ließen uns mit dem Schülerstrom zum Ausgang treiben. Ich nickte zur Antwort verlegen mit dem Kopf.

"Und, romantisch...?", sie setzte wieder ihren zweideutigen Blick auf und ich rollte mit den Augen. "Es war nicht roman...mein Vater saß dabei?!", rief ich ihr zu. Kenia zog eine kindliche Schnute, "Nicht böse gemeint, aber dein Vater steht echt im Weg", meinte sie. Endlich waren wir an der Treppe angelangt und der Schülermasse entkommen.

"Mein Vater ist der Grund wieso ich bei ihr wohnen muss", erwiderte ich und sprach nun etwas leiser während wir uns zum Foyer begaben.

"Stimmt, dafür sind wir dankbar", zog Kenia mich auf.

"Nein sind wir nicht...außerdem bin ich mit Jonah", wir blieben vor dem Ausgang stehen und blickten nach draußen. Es regnete, schon wieder und dieses Mal schüttete es praktisch aus Eimern.

"Na und? Es ist nie zu spät um auf das andere Ufer zu wechseln", Kenia band grinsend ihre langen, dunklen Haare in einen Zopf und zog die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf.

"Es gibt kein Ufer, ich bin mitten auf dem Meer und gehe bald unter."

"Hm...dann kann Frau Lorenz dich aus dem Wasser ziehen und Mund zu Mu...", Kenia stockte mitten im Satz und blickte an meinem Gesicht vorbei. Ein überfreundliches Lächeln legte sich mit einem Mal auf ihre Lippen und mit erhöhter Stimme sagte sie: "Hallo Frau Lorenz". Kurz überlegte ich, ob sie mich auf den Arm nahm, doch dieser Gedanke verschwand augenblicklich als die unvergessliche Stimme meiner Lehrerin hinter mir erklang. Mein misstrauischer Ausdruck entglitt mir und ich starrte Kenia mit großen Augen an.

"Hallo Kenia, solltet ihr nicht im Unterricht sein?", Frau Lorenz stellte sich neben uns und sah uns leicht stirnrunzelnd an. Sie sah so makellos aus wie immer, ihre welligen Haare vielen kaskadenartig über ihre Schultern, auf der einen Seite hatte sie die Strähnen hinter ihr Ohr gesteckt und nun lag ihr Ohr frei, an dem zwei kleine silberne Ringe hingen.

"Biologie fällt heute aus", erklärte Kenia.

"Verstehe, na dann...genießt die freie Zeit", sie lächelte freundlich und blickte kurz zu mir. Als ihr Blick mich traf, kroch ein Schauer über meinen Rücken, ich hörte nur undeutlich die höfliche Verabschiedung Kenias und wacht erst wieder auf, als meine Lehrerin sich abwandte und an uns vorbei nach draußen trat, wo sie mit zügigen Schritten unter dem Vordach entlang lief und sich stetig entfernte.

Kenia versicherte mir, dass Frau Lorenz bestimmt nichts gehört hatte, doch ich hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. Wir verabschiedeten uns, nachdem ich sie noch bis zu den Fahrradständern gelaufen hatte, das Geräusch der quietschenden Reifen ihres bunten Fahrrads verklang im dichten Rauschen des Regens. Ich zog den Reißverschluss meiner puffigen Jacke hoch bis zu meiner Nase und trat widerwillig aus dem Schutz des Vordachs unter den freien Himmel. Ich durchquerte zügig den Platz, mit jedem Schritt spürte ich wie das Wasser meine Jacke tiefer durchtränkte. Ich war kurz vor der Bushaltestelle als ich bemerkte, wie ein Auto an meiner Straßenseite anfuhr.

"Neinneinnein", murmelte ich, eine böse Vorahnung tauchte in mir auf, die sich, sobald bestätigte, als der silberne Mercedes einige Meter vor mir hielt. Das Fenster auf der Fahrerseite fuhr herunter und ein Paar brauner Augen begegneten meinem Blick.

"Ich fahr dich, steig ein", sagte sie. Zwei Seiten von mir befanden sich in einem inneren Konflikt bis sich eine schließlich durchsetzte. Ich straffe meine Statur etwas und lächelte höflich.

"Danke, aber ich fahr lieber mit dem Bus", rief ich durch den Lärm den der prasselnde Regen auf der Motorhaube verursachte. Meine Lehrerin kniff ihre Augen leicht zusammen, sie war keine Person, zu der man Nein sagte, dessen war ich mir sicher. Obwohl sie unter mir war und zu mir aufblickte, hätte ihr Blick mich in die Knie zwingen können.

"Esme, steig ein", sagte sie erneut und mir wurde klar, dass es nicht länger ein Angebot war. Ich umrundete den Wagen und öffnete die Türe hielt jedoch sofort inne, als ich das saubere Leder des Sitzes erblickte. Regen tropfte von meinen Wimpern und perlten an meinem Hals hinab.

"Ähm...", ich sah meine Lehrerin hilflos an "...ich bin total durchnässt...", sprach ich verlegen das Offensichtliche aus. Frau Lorenz zog ihre Augenbrauen hoch, sah mich dann aber direkt wieder ernst, wenn auch ungeduldig an. "Das sehe ich. Steig ein bevor ich dich in den Kofferraum packe", sie hatte offensichtlich keine Lust mehr zu diskutieren und ich riss mich zusammen und stieg schnell ein. Ich schlug die Tür einen Tick zu kräftig zu und die Ruhe die anschließend eintrat, war enorm im Kontrast zu dem Lärm, der draußen herrschte. Das Ticken des Blinkers und mein unebener Atem waren das einzige was zu hören war. Frau Lorenz beugte sich zu mir hinüber und mein Herzschlag verdoppelte sich, doch sie öffnete lediglich das Fach unter dem Armaturenbrett und zog dort ein sauber zusammengefaltetes Shirt heraus. Ohne einem weiteren Kommentar legte sie es über meinen Kopf.

"Du kannst es als Handtuch benutzen", sagte sie ruhig, rubbelte damit kurz durch meine Haare und zog dann ihre Hand zurück um weiter zu fahren.

Ich trocknete mich notdürftig, der Stoff roch nach frischen Waschmittel vermischt mit ihrem eigenen himmlischen Duft und ich kam nicht drum herum meine Augen wohlig zu schließen und ihn tief durch meine Nase einzuatmen.

"Alles in Ordnung Esme?", wollte sie nach einer Weile wissen. Ich blickte zu ihr, die Sanftheit in ihrer Stimme hatte ich so noch nie vernommen und es brachte mich völlig aus der Rolle.

"Ja", antwortete ich leise. Eine angenehme Stille trat ein und ich blickte aus dem Fenster wo die Häuser durch das beschlagene Fenster aussahen wie ein verwischtes Kreidebild.

"Danke, dass Sie mich fahren", ich lugte zu ihr hinüber und betrachtete kurzzeitig ihr aristokratisches Profil aus dem Augenwinkel.

"Gerne Liebes", sagte sie lächelnd und ich schmolz vergeblich dahin. Ich war froh, dass sie sich auf die Straße konzentrierte, denn meine Wangen färbten sich dunkelrot. Ich hatte mich in meine Lehrerin verliebt. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass ich auf solche Weise für eine Frau empfinden konnte. Was war mit Jonah? War es möglich zwei Menschen gleichzeitig zu lieben? Aber meine Zuneigung Jonah gegenüber fühlte sich anders an als zu Frau Lorenz... vielleicht war ich doch nicht in Sie verliebt? Vielleicht hatte sie mich mit ihren Spielchen manipuliert, mit ihrem Zwinkern, den flüchtigen Berührungen, dem entwaffnenden Lächeln und ihrem französischen Gesäusel. Ich schüttelte leicht den Kopf und verjagte die sinnlosen Gedanken, um mich aufs hier und jetzt zu fokussieren.

"Woher können Sie eigentlich Französisch sprechen?", fragte ich und merkte, dass die Frage wohl ziemlich willkürlich war.

"Ich bin in Port Grimaud aufgewachsen, Kleinvenedig in Südfrankreich kann man sagen", erklärte Frau Lorenz, sie fuhr sich mit der freien Hand durch ihre haselnussbraunen Haare und beim Anblick der Ringe an ihrer Hand fragte ich mich, ob sie eigentlich einen Freund hatte oder sogar verheiratet war.

"Und Sie sind nach Deutschland gezogen, wenn Sie an solch einem Ort hätten leben können?", fragte ich, bereute es aber augenblicklich. Ein schöner Ort war nicht gleich ein schönes Leben. Doch Frau Lorenz schien es nicht zu stören, ich war erstaunt, dass sie meine Fragen überhaupt noch tolerierte.

"Als Kind fand ich es dort schrecklich langweilig, meine Großmutter kümmerte sich die meiste Zeit um mich, sie hatte dieses Restaurant direkt am Kanal... l'Amphitrite", ein kleines, sehnsüchtiges Lächeln zeichnete ihr Gesicht, als sie sich an den Ort ihrer Kindheit erinnerte.

"Und ihre Eltern?", die Frage verließ meine Lippen bevor ich mich zurückhalten konnte. Frau Lorenz Vergangenheit fesselte mich, ich wollte erfahren wie sie zu der Person geworden war, die sie heute war. Sie nahm den Blick einen Wimpernschlag von der Straße, um mich mit erhobenen Augenbrauen anzublicken und ich fragte mich, ob ich doch zu weit gegangen war, ging es mich schließlich absolut nichts an.

"Du bist ziemlich neugierig", stellte sie fest, klang jedoch weder abweisend noch tadelnd.

"Tut mir leid", einige Sekunden vergingen, die Scheibenwischer konnten kaum mit der Stärke des Regenfalls mithalten.

"Meine Eltern waren sehr beschäftigte Menschen, oft im Ausland unterwegs...herausragend in ihrem Beruf, dafür nachlässige Eltern", antwortete sie schließlich.

"Das tut mir leid", sagte ich da ich nicht wusste, was ich sonst darauf antworten sollte.

"Es braucht dir nicht leidzutun Liebes, meine Manou ist die beste Großmutter, die man sich wünschen kann", sie lächelte und ein warmes Kribbeln durchströmte mich. Manou und Papou waren Kosenamen für Großeltern in Frankreich und der Fakt, dass Frau Lorenz sie nutzte, war unfassbar niedlich, sie wirkte mit einem Schlag viel menschlicher als zuvor. Aus irgendeinem Grund ließ mich meine Lehrerin näher heran als sonst und mein Herz machte einen freudigen Hüpfer als ich daran dachte, dass sie mich möglicherweise anders als den Rest ihrer Schüler behandelte.

Vielen Dank fürs Lesen und schönes Wochenende :)

𝔼𝕟𝕚𝕘𝕞𝕒Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt