Kapitel 25

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Als ich nach Schulschluss, durch die große Glastür nach draußen trat, fuhr ein sanfter Windzug durch mein Haar und kühlte meine Haut auf angenehme Weise. Ich überquerte zügig den Parkplatz, mit der wachsenden Wärme des Frühlings besserte sich auch spürbar meine Laune. Oder war das wegen etwas anderem....?

Schon bevor ich den grauen Mercedes am Ende des Parkplatzes erreicht hatte, sah ich Julia neben dem Auto stehen und ein Lächeln legte sich augenblicklich auf meine Lippen. Wir hatten noch nicht über das Geschehene gesprochen, und ich war zu nervös um das Wort zu ergreifen. Gleichzeitig hatte ich auch Angst, ich könnte das, was auch immer sich zwischen uns entwickelte, mit zu konkreten Fragen zerstören.
Sie nahm mich wahr und mit einem charmanten Lächeln fegte sie alle meine Bedenken zur Seite. Sie hielt mir galant die Türe auf und eine leichte Röte schlich sich auf meine Wangen, als ich ihr dankte und mich auf den Sitz niederließ. Sie schloss die Tür, bevor sie auf die andere Seite ging und ebenfalls einstieg.

Julia zündete den Motor und fuhr den Wagen hinaus auf die Straße, wo sie dann das Radio anschaltete. Ich lehnte mich in meinen Sitz zurück und blickte seitlich aus dem Fenster. Leise Musik im Hintergrund, ich fühlte, wie die Müdigkeit langsam meine Sinne trübte. Ich hatte gestern Abend lange nicht einschlafen können und durch den Schlafmangel wurden meiner Lider schwer. Ich schloss für einige Minuten meine Augen... und nickte ein.

Ich erwachte, als samtweiche Finger mir die Haare hinters Ohr strichen. Blinzelnd blickte ich auf in Julias braune Augen, sie betrachtete mich mit einem Schmunzeln. Der Wagen stand. Ich sah aus dem Fenster, wir befanden uns in einer recht gewöhnlichen Straße mit anreihenden Familienhäusern. Waren wir etwa schon da? Hatte ich etwa die ganze Fahrt über geschlafen?

„Wie lange habe ich geschlafen?", fragte ich während ich mich etwas aufrichtete.

„Zweieinhalb Stunden etwa, wir sind jetzt da", antwortete sie.

Ich nickte langsam und spürte wie sich ein Bündel an Nervosität in meiner Magengrube bildete. Ich fühlte mich nicht bereit. Ihr schien mein Stimmungswechsel nicht entgangen zu sein, denn sie legte eine Hand auf meinen Oberschenkel und drückte leicht zu.

„Wir sehen uns dann wieder hier?", fragte sie, ihre Stimme beruhigte mich sofort ein wenig.

„Es wird nicht so lange dauern", sagte ich abwesend, „Höchstens eine Stunde, ist das in Ordnung?", ich sah sie unsicher an.

„Dann sehen wir uns hier in einer Stunde", sie lächelte und ich erwiderte es dankbar, bevor ich ausstieg. Ich suchte in meiner Galerie nach den Bildschirmaufnahmen der Route, die ich noch laufen musste und ging dann mit einem mulmigen Gefühl los. Ich hatte Frau Lorenz nicht die exakte Adresse gegeben, sondern eine Straße weiter südlich von der Anlage. Was würde sie denken, wenn sie das Auto vor einer Psychiatrie parken würde.

Als ich mein Ziel erreicht zu haben schien, stand ich zu der Einfahrt eines weißen Betonkomplexes. Ich wartete am Tor, bis man mich hineinließ und stand dann schließlich vor der Eingangspforte eines recht schlicht aussehenden Gebäudes. Am Empfang gab ich den Grund meines Besuches an und wurde in einen weiteren Raum geführt, nachdem man mir meine Wertsachen abgenommen hatte.

Die Aufregung steigerte sich langsam in eine schrille Angst. Übelkeit wallte kurz in mir auf und ich musste mich zusammenreißen.

Eine Frau im weißen Kittel öffnete eine Türe und deutete dann ins Innere. Ich ging zögernd an ihr vorbei und blieb wie angewurzelt stehen, als ich sie an einem kleinen Tisch sitzen sah.
Augenblicklich kickte mein Fluchtinstinkt ein. Nichts war mir lieber als umdrehen und weggehen. Mein Herzschlag schoss hoch, das Blut rauschte in meinen Ohren, mir wurde wieder schlecht.

Ich sah die Anfang 50-jährige Frau an, die meine Mutter war. Ihre rötlichen Haare wiesen graue Strähnen auf, sie sah älter aus, erschöpfter als ich sie in Erinnerung hatte. Sobald sie mich erblickte, legte sich ein strahlendes Lächeln auf ihre Miene und als ich mich endlich aus der Starre löste und mechanisch an den Tisch trat, sah ich, dass ihre Augen feucht glänzten.

Ich setzte mich hin. Ihr Anblick ließ all die verdrängten Gefühle und Erinnerungen in mir aufwallen und ich fragte mich kurz, ob Jonah doch recht gehabt hatte. Vielleicht hätte ich nicht kommen sollen.

„Es ist so schön dich zu sehen Esme", sagte sie schließlich und beim Klang ihrer Stimme fuhr ein schmerzhafter Stich durch meine Brust. Es war dieselbe Stimme, die mich zu Schlaf gesungen hatte, die Stimme, die mir Geschichten vorgelesen hatte, bis ich in den Schlummer fiel und dieselbe Stimme, die mich über all die Zeit angelogen hatte.

Ich antwortete nicht, aus Angst es würde offenbaren, wie tief mich diese Begegnung im Inneren traf. Wie oft ich ihn mir ausgemalt hatte. All die Worte, die ich ihr hatte sagen wollen, gingen mir durch den Kopf doch meine Lippen waren wie zugenäht. Sie lächelte mich an und blinzelte die Tränen fort.

„Ich bin dir dankbar, dass du gekommen bist", sie fuhr sich mit dem Finger am Rand ihres Auges entlang, um die Tränen hinfort zu wischen. Wie wagte sie es zu weinen? Das hier war keine glückliche Wiedervereinigung, es war ein Abschied.

"Ich habe mich nie entschuldigt für das, was ich getan habe", fuhr sie nach einer Weile fort, da ich ihr nicht antwortete. Für mich klangen ihre Worte wie auswendiggelernt.

"Und ich weiß, dass keine Entschuldigung je ausreichen wird... aber ich möchte, dass du weißt, wie sehr es mir leidtut", zum Ende hin bebte ihre Stimme leicht und sie wandte ihre grauen Augen zum Fenster, um sich zu sammeln.

"Vielleicht glaubst du mir nicht. Ich habe mich geändert Esme....ich weiß, dass ich ein Monster war, aber ich habe dich auch wie eine echte Mutter geliebt. Meine Liebe zu dir war immer echt. Ich liebe dich immernoch...!", sie bremste sich und sah mit einem flehenden Ausdruck an.

"Du bist genauso überzeugend wie damals", stellte ich leise fest. Sie lächelte milde, traurig.

"Ich habe die Hilfe bekommen, die ich gebraucht habe, um zu verstehen, was in mir vorgeht...ich lüge dich nicht an Esme", sagte sie. Es war schmerzhaft sie anzublicken. Sie sah genauso aus wie ich sie in Erinnerung hatte und sie passte in jede Erinnerung, die mir von meiner Kindheit geblieben war. In die Geburtstage, die Ausflüge, die Bilder die am Kühlschrank gehangen haben.

"Du bist zu einer wunderschönen jungen Frau herangewachsen", sie streckte ihre Hand aus, um meine Wange zu berühren, doch ich zuckte fast unmerklich zurück und sie ließ sie wieder sinken. Ich musste weg. Mit einem Mal konnte ich diesem Drang wegzurennen nicht länger widerstehen, wie fremdgesteuert stand ich langsam auf. Es war in Ordnung, es war ausreichend.

Meine Mutter blickte auf zu mir, "Ich hoffe du kannst hier nach Frieden finden Esme. Das ist alles, was ich mir wünsche", sagte sie und bei dem schmerzhaften Kloß, der sich in meinem Hals bildete, grub ich meine Nägel in die Handfläche. Ich wollte jetzt noch nicht weinen. Es kostete mich alle Kraft, zuzusehen wie sie sich ebenfalls erhob und kurz schweigend vor mir stand, zuzusehen wie sie sich umdrehte und den Raum verließ. Und es zerriss mich beinah innerlich nichts dagegen zu unternehmen.

Ich ging ebenfalls, durch die Türe auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Ich gelangte wieder in den gleichen Warteraum wie zuvor, verließ das Gebäude ohne zurückzublicken und lief über den Parkplatz und den ganzen Weg zurück. Mein Verstand war wie vernebelt und seltsam taub. Als ich schließlich an Julias Wagen ankam, war die Türe verschlossen.

"Das ging ja schnell", erklang es hinter mir. Julia ging auf die andere Seite des Autos und schloss auf.

"Ich denke wir haben uns etwas zu essen verdient, meinst du nicht?", meinte sie lächelnd und blickte mich erwartend an, als sie meinen Ausdruck sah, stutzte sie.

"Esme?", hakte sie behutsam nach.

Sie schloss die Türe, umrundete den Wagen und stellte sich vor mich. Sanfte Hände legten sich um mein Gesicht, als sie mich dazu aufforderte sie anzublicken. Braune Augen musterten mich mit aufrichtiger Sorge, bevor sie mich ohne ein Wort zu verschwenden an sich drückte. Mit ihren Armen um meinen Körper geschlungen und meinem Gesicht in ihrer warmen Halsbeuge vergraben, löste sich endlich etwas in mir und ich fing an wie ein Kind in ihren Armen zu weinen.

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𝔼𝕟𝕚𝕘𝕞𝕒Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt