Kapitel 6

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Rafael 

Ich stehe vor Manuels Haus. Es ist ein schönes Einfamilienhaus, jedes Mal erinnert es mich an das typisch amerikanische Klischee einer Vorstadt. Sein Haus ist weiß gestrichen mit einem terrakottafarbenen Ziegeldach. Eigentlich passt es überhaupt nicht zu seinem Leben, wenn man ihn besser kennt, versteht man das. Ich meine, okay, er ist wirklich ein herzensguter Mensch und der loyalste Mann, den ich habe. Aber wenn man sich das Haus ansieht, würde man denken, hier lebt ein reicher Staatsanwalt mit seiner Familie, der an Weihnachten Lieder singt und an Thanksgiving Gebete spricht, während sie sich am Tisch alle die Hände halten und Gott lobpreisen. Manuel ist so einiges: geduldig, aufopfernd, tapfer.... aber er ist niemals der ruhige Familienvater, der um sechs Uhr abends von der Arbeit kommt und mit seiner Familie am Tisch sitzt, während sie darüber sprechen, wie der Tag gelaufen ist. Ich weiß, dass Manuel sich so etwas wünscht, sich nach seiner Familie und ein ruhigeres Leben sehnt, aber wer einmal dabei ist, bleibt bis zum Tod. Manuel weiß das. Ich weiß das. Meine Männer wissen das. Es ist ein Dogma. Ein ungeschriebenes Gesetz.

Pedros Besuch liegt nun schon eine Woche zurück und seine Worte haben mich wirklich zum Nachdenken gebracht. Nicht wegen Manuel - nicht nur, sondern mehr die Behauptung, dass Alba wie Amalia sei. Ich vermisse meine Schwester, würde alles aufgeben, um sie nur ein einziges Mal wieder in die Arme zu nehmen. Mich bei ihr zu entschuldigen und zu sagen, dass ich sie liebe, dass sie das Wichtigste für mich ist...

Ich klingle, die kleine Amalia -seine Tochter - rennt zur Tür und öffnet sie mir. »Tío Rafael« Sie springt mich an und entlockt mir ein Lächeln. Manuel hat seine Tochter nach meiner Schwester benannt, das werde ich ihm immer hoch anrechnen. Die Kleine ist jetzt vier Jahre alt, damals war Felicita in der 20. Schwangerschaftswoche als mein kleiner Schatz verschwunden ist. Seit 60 Monaten habe ich nichts mehr von ihr gehört. Noch immer zerreißt es mir das Herz, wenn ich daran zurückdenke wie ich in ihrem Zimmer stand und sie plötzlich verschwunden ist.

Ich küsse meine kleine Prinzessin auf die Wange und spaziere mit ihr auf dem Arm in die Küche, wo Felicita gerade das Mittagessen kocht. Das Essen riecht köstlich, bei dem Geruch meldet sich mein Magen. »Hola. Was riecht hier so lecker?« Ich gebe ihr zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange. »Enchiladas. Wie gehts dir? Lange nicht mehr gesehen.« Manuels Frau gehört für mich ebenfalls zur Familie, wie Manuel es tut.

Sie hat eine wirklich gute Seele, weswegen es am Anfang immer sehr große Probleme zwischen ihr und Manuel gab. Er war stolz darauf, ein Teil der Santa Muerte zu sein, während Felicita unsere Arbeit verurteilt. Ich kann es ihr nicht verdenken, es wäre wirklich seltsam, wenn eine Ehefrau es gutheißen würde, dass ihr Mann jede Nacht fehlt und in Lebensgefahr steckt. Nach Amalias Geburt bekam Manuel endgültig die Position als Wächter. Er beobachtet die Speere und passt auf, dass sie auch wirklich gute Arbeit leisten. Wir können uns in unserem Beruf keine Fehler erlauben. Der noch so kleinste Fehler kann den Tod bedeuten!

»Ah ja, man lebt Feli. Und wie gehts euch?«

»Man lebt? Also doch so schlimm? Ist irgendetwas passiert?« Sie ignoriert gekonnt meine Frage, was mich schmunzeln lässt. Ich lasse die Kleine wieder von meinem Arm runter und setzte mich auf einen der Hocker, der vor dem Küchentresen steht.

»Wie kommst du darauf?«

Sie mustert mich mit demselben strengen Blick, mit dem sie immer Amalia ansieht, wenn sie in Manuels Zimmer herumschnüffelt. Tödlich. Beschützend.

»Rafael, ich schwöre dir, wenn-« weiter kommt sie nicht, denn ich unterbreche sie.

»Feli, da ist nichts. Wie kommst du darauf?«

»Er sperrt sich wieder in sein Arbeitszimmer ein und kommt nur raus, wenn er muss! Ich schwöre dir Rafael, ganz egal, wie gern ich dich hab, noch so eine Aktion überlebt meine Familie nicht. Du riskierst, dass Amalia ohne Vater aufwächst, verstehst du das?!« Es verletzt mich, dass sie glaubt, dass Manuels Verhalten meine Schuld ist. Ihr Ton ist anklagend, frustriert und zornig.

Mi enemigoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt