Kapitel 16

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Alba

Die warmen Wasserstrahlen prallen auf meinen Körper und spülen das getrocknete Blut von mir. Das Wasser färbt sich rosa, ehe es den Abfluss hinab sickert. Der Gedanke daran, dass alles Heute endet, lässt mich vor Ehrfurcht erschaudern. Ist das mein Happy End? 
Ganz ehrlich? Ich weiß nicht, ob ich überlebe. Gestern wäre ich mir noch sicher gewesen es mit jeden der Männer aufnehmen zu können, die sich mir in den Weg stellen... das war bevor ich im Keller gefoltert wurde. Ich kann kaum aufrecht stehen, was wohl dem Blutverlust zu verdanken ist oder der Blutvergiftung, die ich sicher habe... aber irgendwie ist es mir egal. All das hier: ist mir egal! Ich möchte ein Ende, ein Cut. 
Ich möchte meine letzten Stunden nicht mit was-wäre-wenn vertreiben, stattdessen erinnere ich mich an die schönen Momente. Manuel damals im Park getroffen zu haben, nach so langer Zeit wieder mit jemanden zu reden, hatte in mir den Wunsch geweckt, jemanden für das Leben zu finden. Einen Mann zu finden, der mich beschützt und mich liebt, sodass ich dafür nicht mehr alleine verantwortlich bin. 
Bisher hatte ich nicht viele Umarmungen oder Liebkosungen erfahren. Das netteste, was mein Vater zu mir sagte, war perra (Schlampe). Ich verstehe das alles noch nicht. Er meint, er hätte mich wegen meiner Mutter am Leben gelassen, hat sich aber gegen sie entschieden, als ihr Leben gegen das unseres stand. Soll das also Liebe gewesen sein?
Eigentlich habe ich in 5 Tagen Geburtstag. Ich würde 21 Jahre alt werden. Dass ich den Tag vermutlich nicht erleben werde, ruft mir noch einmal ins Gedächtnis wie sehr der Verrat von Juan und Alberto mich trifft.  In El Paso hätte ich mich mit einem Kilo Eis vor dem Fernseher gesetzt und mein Leben gefeiert, in dem ich mir eine Serie nach der anderen angeschaut hätte. Ironischerweise fällt mir jetzt auf, dass Alberto mein Carlos war. Ich habe in Carlos immer nur das gute sehen wollen: Der reiche, attraktive Chef, der sich in seine Mitarbeiterin verliebt und ein Kind mit ihr bekommt. Der sich für ihre gemeinsame Beziehung gegen seine Familie stellt... und doch hat Carlos Lidia verraten. Hat sie ausgenutzt und sie schließlich in die Situation gebracht, dass sie gefangen genommen wurde. Jap... einige Parallelen fallen mir doch auf. 
Alberto ist das personifizierte Böse von Carlos. 

Ich schalte die Dusche aus und greife nach dem Handtuch. Wenn ich mich mit zwei Wörtern beschreiben müsste, wären es wohl: selten dämlich. Wie konnte ich es vorher nicht sehen? War ich wirklich so blind gewesen?

Unwillkürlich wandern meine Gedanken zu Rafael. Bei ihm konnte ich die toughe Alba sein, die sich nichts verbieten lässt und dann...
Kaum begegne ich Alberto, ist mein Fortschritt der letzten Jahre vergessen.
Alberto... stöhnend lege ich meinen Kopf in den Nacken, als mit einfällt, dass er mit mir sprechen wollte. Ich kann es kaum erwarten seinen Zynismus zu begegnen. Denke ich, während ich mich eincremen und mich bereits im Badezimmer anziehen. Meine Vergangenheit hat mich gelehrt, mich besser nicht im begehbaren Kleiderschrank oder in meinem Zimmer umzuziehen. Verschließbare Räume sind der einzige Ort, an dem ich mich um- oder anziehen sollte. 

Als ich heraustrete sitzt er bereits auf meinem Bett. Mich überkommt ein Dejavú unserer letzten Begegnung. Ich blicke auf seine schwarzen Lackschuhe, die überkreuzt auf meiner Bettdecke liegen.
»Ob tot oder lebendig, deine Schuhe haben nichts auf meinem Bett verloren«, begrüße ich ihn.
»Nettes Wortspiel«, sagt er grinsend.
»Was willst du Alberto?!« Frag ich genervt. Ich habe mich damit abgefunden, die Nacht nicht zu überleben. 
»So freundlich... Na ja, du kannst dir denken, dass mein Tag wirklich wunderschön war. Ich war am Strand, habe-«
»einen Welpen getötet? Eine Oma überfahren oder eine Klinik angezündet? Ach nein, das war ja Rafael.« Bei seinem Namen verschwindet das dämliche Grinsen, innerlich fühle ich einen Freudentanz auf.
»Hast du jemals etwas von Amalia Cifuentes gehört?« Er wird wieder ernster.
»War das nicht die nette Fee von Cinderella?« Spotte ich, dabei betrachte ich desinteressiert meine Fingernägel. 
»Nicht ganz. Sie ist die Schwester von Rafael Cifuentes, dem Anführer der Santa Muertes und dein neuer Freund.« Letzteres sagt er belustigt, woraufhin ich eine Augenbraue hebe. 
»Wieso sollte mich die Kleine interessieren?« Frage ich gelangweilt.
»Ganz einfach, Albita. Weil du heute Nacht sterben wirst.«
»Ach werde ich?« 
»Wirst du, wenn nicht, stirbt die Kleine.« 
»Was bringt es dir? Und außerdem wieso sollte ich mein Leben für sie opfern?!«
»Das kann nicht dein Ernst sein, hermosa? Du hast es immer noch nicht verstanden. Im Grunde gebe ich dir die Wahl, unter wessen Hand du stirbst. Unsere oder die von Rafael.« Unsere hallt es in meinen Ohren wider, wie das Echo von den Wänden einer Höhle. Ich wusste, dass er mit meinem Vater zusammenarbeitet. Jetzt habe ich eine Bestätigung. 
»Weißt du was, Beto? Du bist dreckiger als die Kanalratten! Ich hoffe, du verreckst an AIDS oder wirst von einem Hai gefressen!« Nun hat er meine vollste Aufmerksamkeit. 
»conoces tus opciones, hermosa.« (du kennst deine Optionen, meine hübsche)
»War das dein Masterplan? Der Grund, wieso ich nicht nach El Paso zurück kann?« Als Antwort zieht er einen Flyer heraus. Auf dem Flyer bin ich mit Manuel zu sehen. Wir strahlen beide in die Kamera. Ich erinnere mich an den Tag, es war auf meiner Abschlussfeier, nachdem ich die Schule erfolgreich abgeschlossen habe. Mercedes hat das Bild geschossen. Manuels Grinsen wetteifert mit meinem. Zu der Zeit hatte ich noch kurze Haare, die gerade so meine Schulter berührten. 
»So ist es.«
»Ich hoffe, du stolperst die Treppen hinunter und brichst dir das Genick. Traidor!« (Verräter)
Er gibt mir einen Kuss auf die Wange und stolziert heraus. Er hat mein Leben zerstört. Wäre er nicht aufgetaucht, würde ich jetzt wahrscheinlich mit Manuel und Mercedes Pläne für unsere nächsten Abende schmieden. Ich weiß, es wären tolle Pläne gewesen. Da bin ich mir sicher. 

Die Stunden bis zu meiner Prüfung verbringe ich mit den Gedanken an Amalia. Die Schwester von Rafael Cifuentes. Bin ich ihr schon einmal begegnet?
Rafael hat meine Klinik verbrannt, wieso sollte ich ihm helfen? Wegen der Kleinen. Schießt es mir durch den Kopf. Ich bin schon tot. Es auch physisch zu sein, macht für mich keinen Unterschied. Ich werde wahrscheinlich ohnehin an einer Blutvergiftung sterben. Die Wunden haben mittlerweile ein wenig aufgehört zu bluten, dennoch spüre ich den Druckverlust und das Pulsieren der Wunde, im gleichen Rhythmus wie mein Herz. Poch. Poch. Poch.  Um meine Schusswunde hat sich bereits Eiter gebildet. 
Ich lege eine Hand auf die Stelle, wo sich mein Herz befindet und spüre das heben und senken, schließe meine Augen und erinnere mich an Albertos letzten Worte, denke an den Moment zurück, als er mich zu der Flucht überredet hat: Ein Schritt und du bist frei. Ein Schritt und du kannst endlich selbstbestimmt leben, ohne deinen Vater oder das Kartell.

Ich stelle mich an den Balkon und beobachte das Geschehen der Männer. Jeder rennt herum und lädt etwas in die Kofferräume. Schließlich entziehe ich mich der Situation und besuche einen Ort, der frühere mein Heiligtum war. Meine Kirche, wenn man es so sagen möchte.

Ein warmer Wind weht mir ins Gesicht, als ich die Tür zur Dachterrasse öffne. Mein Herz zieht sich zusammen, als ich den Schrein, den ich mithilfe von Alberto errichtet habe, immer noch wie verlassen vorfinde. Nichts hat sich geändert. Auch die Kuscheldecke, die wir immer hinter dem Schornstein versteckt haben, finde ich noch dort. Mein Herz zieht sich schmerzvoll zusammen, dennoch würde ich mir keinen besseren Ort wünschen, an dem ich jetzt lieber wäre.
Kurz spiele ich mit dem Gedanken Rafael anzurufen und ihn zum Teufel zu jagen. Nein. Das wäre unreife, schließlich habe ich gelesen wie viel er bereit wäre zu zahlen, um mich zu finden. Außerdem kann ich nicht glauben, dass auf dem Flyer seine Nummer steht. Letztendlich hat mein Vater mich vor dem Tod beschützt, obwohl er mich auf den Tod nicht ausstehen kann. Ich weiß noch nicht, ob ich mich wirklich für Amalia opfern soll. Beziehungsweise weiß ich es eigentlich, aber ich möchte es mir nicht eingestehen. Vor zwei Wochen habe ich geschworen die Frauen zu beschützen, die Misshandelt und von Kartellen unterdrückt werden, dazu gehört auch Amalia, auch wenn sie die Tochter meines Feindes ist. Mi enemigo, irgendwie kann ich nach gestern Abend Rafael nicht mehr als solches sehen, auch wenn ich in seinen Augen immer seine enemiga sein werde.

Ich breite die Decke vor dem Schrein aus, zünde eine der Kerzen mit dem Feuerzeug an, den wir immer hinter dem Bilderrahmen versteck hielten und setzte mich auf die Decke. Mittlerweile dämmert es langsam, nicht mehr lange und man wird mich holen kommen, wie ein Lamm vor seiner Schlachtung.
»Ich vermisse dich, Mama!« Meine Stimme bricht. Ich blinzle einige Male heftig, ehe ich weiterspreche. »Ich verstehe nicht, wie du nur so ein Arschloch wie Papa heiraten konntest? Du hättest es verdient zu Leben, Mama. Mehr als ich. Du hättest die Welt entdecken können und glücklich werden können. Ich wünschte, ich hätte dich kennengelernt! Juan hat immer zu mir gesagt, dass ich als Mamas Zwilling durchgehen könnte, so ähnlich sähen wir uns. Ich dachte dabei immer das du gemeint warst, jetzt weiß ich, dass es Cayetana war. Es ist merkwürdig Mama und Cayetana in einem Satz zu erwähnen. Dass ihr beide von oben auf mich herabseht, gibt mir ein wenig Hoffnung, denn in einigen Stunden werde ich euren Beispielen folgen. Übrigens, Mama ist dein Bruder ein Arsch! Das erklärt wohl wie du an Papa kamst, oder?« Seufzt. Das Letzte war nicht in Ordnung von mir, es ist nicht ihre Schuld. Sie war ja nicht einmal an meiner Geburt oder Entstehung beteiligt. Ich schließe die Augen, genieße die Ruhe und kämpfe gegen den Schwindel. Ziemlich sicher werde ich diesen Kampf nicht gewinnen. Aber wenigstens sterbe ich an meinen Lieblingsplatz und nicht in der Arena, die Papa gerade aufbaut.

»Schlafen kannst du, wenn du Tod bist« ich erschrecke als mein Vater vor mir steht und mich weckt. Mein erster Gedanke ist der Schrein, als ich rüberblicke sehe ich, wie dieser komplett beseitigt wurde, das Bild von Mama liegt in Scherben auf dem Boden. Meine Augen füllen sich mit Tränen, meine Adern pochen wie wild, ob wegen der Wunden oder der Wut weiß ich nicht. »Was hast du getan?« Hauche ich.
Das Grinsen meines Vaters wird immer größer, schließlich antwortet er: »Über Tote zu trauern, ist wie dich mit deiner eigenen Waffe zu erschießen - unehrenhaft!«
Das reicht! Ich bin schon tot, habe nicht mehr zu verlieren! »Du bist der einzig unehrenhafte Papa! Du vergreifst dich an Frauen und Kinder! Schlägst sie! Misshandelst sie! Lässt zu, das ein Fremder sie-« weiter komme ich nicht, da trifft sein Handrücken meine Wange. Meine Wut ist so schnell verfolgen, wie sie gekommen ist. Wie konnte ich all die Jahre seine Gunst, seinen Stolz angestrebt haben? Er besitzt kein Stolz, deshalb kann er sie auch nicht weitergeben. 

Mi enemigoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt