Kapitel 9

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Als ich am nächsten Morgen erwachte, fühlte ich einen Hunger im Bauch, als hätte ich gestern gar nichts gegessen; was ja auch nicht ganz ungelogen war. Ein Blick auf die Uhr: 10:55 Uhr! Schnell rollte ich mich aus dem Bett und zog mich trotz der Uhrzeit gemächlich an. Die schwarze Seidenbluse und meine rote Strickjacke. Untenherum trug ich nun eine lange, enge, dunkelblaue Jeans und hohe, braune Stiefel. Dann öffnete ich die Glastür und ging die breite Wendeltreppe hinunter.

Im Gang war niemand zu hören oder zu sehen und Vadim war anscheinend draußen auf der Jagd oder beim Schichtdienst mit Amica. Als ich nun unten war, sah ich in die Küche. Der breitschultrige Vater stand seelenruhig am Esstisch und schlürfte eine Tasse Kaffee. Halt! Er war ja Vampir, - hieß, er schlürfte, wenn überhaupt, nur Blut. Ich gähnte kurz und ging auf ihn zu. Hinter ihm räusperte ich mich. „Ähm...!", stotterte er und hustete stark. Ich streckte mich und klopfte ihm den Rücken.
„Danke!", röchelte er und putzte sich die Nase mit dem Tuch, welches ich ihm reichte. „Erst mal einen guten Morgen, Sir!", grüßte ich ihn höflich und reichte ihm die Hand. Er erwiderte die Geste. „Guten Morgen, Thea. Bitte! Nicht „Sir"; nenn mich Giovanni. Du kannst mich ruhig duzen!", erwiderte er gutmütig. Ich nickte und lächelte zaghaft.

Die Standuhr schlug. Viertel nach Elf. Ich sah mich um, spürte das Gefühl der Unwohle in mir und fragte schüchtern: „Zu Essen habt ihr zufällig nichts, oder?" „Ach ja! Entschuldige, aber die Brote, die dir meine Frau gestern gebracht hat, hatte sie davor gekauft. Ich fürchte, du musst nach London, um dir etwas zu holen!" Ich nickte enttäuscht und überlegte, als Giovanni meinte: „Ich kann auch Vadim anrufen, dass er etwas besorgt. Er ist nämlich seit fünf nach am Wachposten. Meine Frau und Amica sind bei der Jagd". Ehe ich antworten konnte, zückte er bereits sein Mobiltelefon, drückte auf den grünen Hörer und kurz darauf auf „Extralautstärke".
Er schüttelte den Kopf, als ich etwas erwidern wollte. Kaum war mein Freund dran, erklärte der Vater die vorgefallene Situation und nach einer kurzen Pause gab er mir das Telefon. Ich beendete den „Extralautstärke" - Modus und hielt mir das Gerät ans Ohr. „Ja?" ... „Ok..." ... Dann legte ich auf und gab das Telefon wieder ab. „Was hat er gesagt?", fragte mich der Vater neugierig. „Er meinte, ich solle in einer halben Stunde am Neck-Café sein. Dort frühstücken wir dann, in Ordnung?" „Ja klar!", antwortete er und ging. Ich blieb noch kurz, dann ging ich ebenfalls.
In meinem Zimmer kämmte ich meine Haare durch und legte meine Uhr an. Dann noch mein Handy in die Strickjackentasche und den Schlüssel in die Hand. Denn das Haus hatte für mich auch ein Schlüsselloch eingebaut. So lief ich zehn Minuten später die Treppe hinunter. Dann kletterte ich vorsichtig die Strickleiter hinunter. Sie hing nämlich so nah an der Treppe zur Haustüre, sodass ich gut hinüberschwingen konnte. Gut für mich. Draußen war es, wie immer hier, kalt und leicht düster, trotz der morgendlichen Uhrzeit. Am Stadttor traf ich auf den Onkel der Geschwister.

„Hallo, schöne Thea!", begrüßte mich der Riese. Ich konnte mir ein kleines Lächeln kaum verkneifen. Ich grüßte ebenfalls und wollte gerade durch den eisernen Bogen gehen, da fiel mir ein, dass ich das Geld, um das mich Vadim gebeten hatte, vergessen hatte. Ich machte kehrt, als mich Vlad III. fragend ansah. „Ich habe Geld vergessen, weil ich zu Vadim gehe, um zu frühstücken! Bin gleich zurück!" Als ich mich umdrehte und ging, sah ich flüchtig auf die Uhr, an meinem Handgelenk: 11:37 Uhr.

Zügig lief ich durch die Gassen. In einer solchen kleinen Straße kam ein merkwürdiges Gefühl in meiner Magengegend auf. Zuerst ignorierte ich es; dachte, es sei der Hunger. Doch dann merkte ich, dass es nicht so ruhig war, wie ich angenommen hatte. Krähen kreischten und dort streunte eine schwarze Katze umher.

Da geschah es! Etwas zwang mich der Katze direkt in die Augen zu sehen und da huschte auch schon ein schwarzer Schatten hinter einer Hecke vorbei. Dieser Schatten, ich bemerkte es nicht, verfolgte mich schon eine Weile und ehe ich auch nur hätte zucken können, legten sich bleiche Finger auf meine warmen, schönen Lippen. Ich zuckte.

Es waren Finger einer eiskalten Hand. Ich zappelte, als mich die Gestalt hochnahm und forttrug. Wie ich erkannte, aufgrund der Körpertemperatur, war mein Entführer ein Vampir. Besser gesagt ein männlicher Vampir. Ich schrie, doch niemand hörte mich. Wer auch! Ich hing wehrlos auf den Schultern des Vampirs und wurde entführt! Mittlerweile gab ich den Mut auf und auch meine Stimme verließ mich nun auch so langsam.

Plötzlich nahm ich einen Geruch wahr, der beißend und verdächtig nach Chloroform roch. Der Verdacht lag nahe, dass es sich um Alkohol handelte. Gerade, als ich dies dachte, legte sich ein Tuch mit genau diesem Geruch über meinen Mund und meine Nase. Binnen weniger Sekunden war ich betäubt und dann komplett weg. Sehr schwach nahm ich allerdings dennoch wahr, wie der Entführer sagte: „Na endlich bist du ruhig, kleines, verrissenes Luder!" Dann rutschte mir mein Schlüssel aus der Hand. Mein Peiniger nutzte dies aus und kickte ihn noch ein Stückchen weiter weg, um damit niemanden auf meine Fährte zu lenken.

Dann brachte er mich sehr weit weg.
Weit, weit weg
...und...
Ganz weit fort!

Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit aufwachte, war es sehr düster um mich herum. Ich blinzelte und schluckte. Mein Mund war staubtrocken. Ich hatte Durst und war unendlich hungrig. Mühsam richtete ich mich auf. Ich saß auf dem Boden eines, sehr fahlen Raumes. Darin lag eine alte, schäbige Matratze. Eine kleine Lampe spendete etwas Licht. Eher notdürftig, aber okay. Wenigstens Licht! Ich sah an mir herab. Ich trug weder Fesseln noch einen Knebel. Was sollte das? Eigentlich sollte ich ja darüber froh sein, aber irgendwie gehörte es doch zu einer Entführung dazu! Allmählich war es unheimlich. Ich saß hier und Vadim machte sich sicher Sorgen um mich. Wie viel Uhr wir wohl mittlerweile hatten? Wer war der Entführer? Und wo war ich hier?

Als ich mich weiter umsah, erkannte ich eine weitere Person, die zu schlafen schien. Diese lag auf der Seite in einer dunklen Ecke. Sie war gefesselt und hatte ein Pflaster über dem Mund. Neben ihr stand ein hölzernes Regal. Auf den einzelnen Böden waren Pipetten unterschiedlicher Füllmengengrößen und gläserne Reagenzgläser untergebracht - allerdings voller Blut!

Angeekelt drehte ich mich weg. Da sah ich etwas kleines, Schwarzes neben mir liegen. Ich sah es angestrengt an und hob es auf. Es war mein Handy! Verwundert, dass mein Peiniger es mir nicht abgenommen hatte, untersuchte ich es. Es war, soweit ich es erkennen konnte, ganz. „Hmm...", machte ich. Als es nach zwanzig Sekunden allerdings nicht anging, fluchte ich: „Mist!" und drückte mit meinen blaulackierten Fingernägeln die Klappe auf der Rückseite auf. Leer! Die Sim-Card und der Akku wurden entfernt! Gut für den Verbrecher, schlecht für mich! So pfefferte ich die entfernte Klappe rechts neben die Türe, legte das unbrauchbare Handy in meinen Schoß und ließ meinen Tränen freien Lauf. Ich werde hier nie wieder rauskommen! Aber warum mache ich mich eigentlich so schlecht? Also wischte ich mir schnell die Tränen aus den Augenwinkeln und seufzte befreit.
Hoffnung musste ich haben! Vadim wird mir sicher helfen! Irgendwann...

Da! Die gefesselte Person bewegte sich nun. Vorsichtig, um sie nicht zu erschrecken, sah ich hin. Sie winselte und wand sich wie ein Aal umher.
Ich war mir so ziemlich sicher, dass es sich um eine Frau handeln musste. Die Frau bewegte sich eben etwas zielstrebiger, so als würde sie Hilfe brauchen. Ich ging zu ihr hin und fragte: „Soll ich dir helfen?" Ich kniete mich vor ihr hin und streckte die Hand aus, da schüttelte sie, wie ein wildgewordener Stier, ihren Kopf und riss ihre Augen weit auf. Nun konnte ich sehen, was sie mir mitteilen wollte.

Denn ihre Augen waren... - ... blutrot!

The secret of... the bloody rageWo Geschichten leben. Entdecke jetzt