10*

1K 114 8
                                    

Diesmal ging der Übergang im Licht so schnell, als würden sie lediglich durch eine Tür hindurch treten. Schon kamen sie wieder heraus und Emily stolperte gegen Mikael, der erstaunt stehen blieb.
Und auch Emily war erstaunt als sie nach einer hastig gestammelten Entschuldigung aufblickte und die megalange Warteschlange sah, die sich da bereits einen breiten Serpentinenweg hinauf wand.
Himmel... das waren sicher hunderte von Seelen. Von toten Seelen!
Und manche von ihnen sahen sogar ganz grausig und entstellt aus. Gott...

Mikael blickte kurz gespannt zum Himmel hinauf und dann erst wieder zum Pfad hin, der zu dem gigantischen Baum führte, den die eben noch auf der anderen Seite der Stadt gesehen hatte. Das war also der Lebensbaum?

Wow...

„Hm... da scheint sich in den letzten zwei Ewigkeiten doch so einiges geändert zu haben. Ich kann mich wirklich nicht entsinnen jemals eine so lange Schlange anstehen gesehen zu haben. Aber so ist das Himmlische Reich nun mal. Geduld zu üben ist bei uns eine Tugend.", sagte er leise und ließ nun doch ihre Hand los, was Emily verblüffte, aber sie sagte nichts dazu und sah nur wie Mikael nun mit leicht gehobenen Brauen hierhin und dorthin blickte, bevor er kopfschüttelnd schmunzelte.
„Ich werde gerufen. Am besten du bleibst also hier und stellst dich so wie alle anderen in der Warteschlange an, Emily. Ich werde derweil meinen Bruder, Erzengel Metadron aufsuchen und ihn fragen, warum die Prüfungen derart langwierig geworden sind, dass die Warteschlange nun den gesamten Pfad der Tugenden hinunter reicht. Hab keine Sorge und sei einfach nur du selbst, wenn du an die Reihe kommst. Sie werden dir Fragen stellen, antworte ehrlich und handle Gewissenhaft. Wir sehen uns dann später wieder. - Oder brauchst du mich an deiner Seite?", fragte er sie warmherzig.
Emily errötete leicht und blickte die lange Schlange entlang.
„Nein, ist schon gut. Wenn du gerufen wirst musst du gehen. Das ist sicherlich wichtiger als mein Befinden. Und so wie ich das sehe wird das hier noch eine ganze Weile dauern, also weißt du ja wo du mich finden kannst. Ich bleibe hier und warte einfach bis ich dran bin.", erklärte sie ihm leicht lächelnd und er berührte einmal mehr ihr Gesicht.
„Habe keine Angst vor den Toten. Denn hier können Sie dir nichts tun. Es sind Seelen so wie du und auf dem Pfad der Tugenden werden die meisten von ihnen auch wieder körperlos. Sei also nicht überrascht, wenn es auch dir so passiert. Das ist normal, unter den Zweigen des Lebensbaumes.
Und es bedeutet lediglich, dass du noch nicht Eingeschätzt wurdest. Ich bin zurück sobald ich kann.", Versprach er ihr sanft und Emily nickte nur eilig.
Schon war er verschwunden. Mit nur einem Schritt zurück ins Licht gegangen ... um eine andere Seele zu retten? Oder um wieder gegen die Dämonen zu kämpfen?
Nun ja... er war eben ein mächtiger Engel. Vermutlich war es also wirklich besser so.

Sie verlor sich schließlich gerade viel zu sehr in ihrem Tagtraum, dass dieser wunderbare junge Engelmann sie wirklich richtig mochte und fortan beschützen wollte.
Was für eine absurde Vorstellung, bei alldem, was er sicherlich tagtäglich zu leisten hatte. Dämonen zurückschlagen, damit sie nicht noch mehr Menschen auf der Erde anfielen, Seelen retten und unschuldige beschützen.

Kurz berührte sie ihre Wange und meinte wieder seinen Kuss zu spüren. Den Kuss, den er ihr gerade gegeben hatte, er hatte sich nur so weit zu ihr vorgebeugt... und seine Finger auf ihre Lippen gelegt.
Ihr war dabei ebenso wohlig warm geworden, wie in dem Moment, als sie das Schwert durchbohrt hatte.
Seltsam eigentlich. Hätte es nicht arg Schmerzen müssen von einer Seelenvernichter-Waffe durchbohrt zu werden?

Die Reihe rückte ein wenig auf. Sie traten alle einen Schritt vor und hastig stellte Emily sich hinten an. Und auch noch weitere Seelen kamen nun hinzu geschlurft.
Nun ja... jetzt war es wohl wirklich soweit. Sie war nur noch eine kleine Seele inmitten von Seelen. Vermutlich war das auch richtig so, dass sie erst noch eingeschätzt wurden, bevor sie in den Himmel durften. Ihre Oma hatte schließlich immer gesagt dass Petrus vor dem Himmelstor warten und in seinem allwissenden Buch nachschauen würde ob ein Toter den Eintritt in das Himmelsreich auch wirklich verdiente.

Dark Wings #15chaptersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt