Ich klammere mich an Thors Hals, als wäre es das Einzige, was mich davor bewahren könnte, in die Abgründe des Meeres gezogen zu werden. Im Grunde ist es das auch.
Eisige Kälte schlägt mir entgegen. Auf wundersame Weise ist unsere Kleidung trocken geblieben; wäre sie es nicht, wären wir in Sekundenschnelle zu Eiszapfen erfroren. Ich komme schwankend zum Stehen. Die Bifröstbrücke war nicht halb so schlimm wie die Reise durch diesen Wasserstrudel.
»Wir müssen am Gjöll entlang, immer flussabwärts«, sagt Thor, und sein Atem bildet Wolken aus weißem Dampf in der kalten Luft. Ich frage mich, woher er den Weg kennt, sage aber nichts. Er bietet mir seinen Arm an, und wir beginnen unsere Wanderung durch den Schnee. Es ist klirrend kalt.
Thor hat nur das Nötigste mitgenommen. Ich wünschte, er hätte nicht so überstürzt unser gesamtes Gepäck aufgegeben, aber wirklich böse kann ich ihm deswegen nicht sein. Den Rest unseres Gepäcks werden wir wohl nie wiedersehen, und ich beneide Felipe darum, dass er sich nicht mit uns in diese weiße Hölle wagen muss. Noch scheint eine kalte Sonne auf die Schneelandschaft herab, doch ihr Licht ist schwach und ihre Strahlen bringen keine Wärme. Mit jedem Schritt frieren meine Füße ein Stück weiter ein. Ich trage nur die leichten Lederstiefel, die mir ein Händler aus Hoguns Dorf geschenkt hat, und die nicht für eine Wanderung durch die kälteste der Neun Welten geeignet sind. Meinen Schal habe ich schon hochgezogen, die Kapuze aufgesetzt, doch es nützt kaum etwas.
Bald schlottere ich vor Kälte. Es fühlt sich an, als würde ich über Messer gehen. Je dunkler es wird, desto stärker wird auch der Wind, fliegende Eiszapfen, die unter meine Kleidung dringen und mir auch noch das letzte Gefühl der Wärme rauben.
»Wir haben es fast geschafft«, sagt Thor, auch seine Stimme bebt vor Kälte, seine Lippen sind blau, und doch scheinen die eisigen Temperaturen ihm nicht so viel anzuhaben wie mir, sei es, weil er ein Ase ist, oder weil er einfach mehr Muskeln besitzt, die ihn warmhalten.
Als ich zu stolpern beginne, habe ich schon vergessen, wie sich Wärme anfühlt. Meine Augen tränen, jeder Atemzug fühlt sich an, als würde jemand mit einem Eispickel auf meine Lungen einstechen. Kurzerhand hebt Thor mich hoch und wickelt seinen Umhang um mich. Ich will protestieren, aber sobald ich meinen Mund öffne, gelangt die Kälte an meine Zähne und friert meine Zunge ein. Kleine Schneeflocken hängen an meinen Wimpern und versperren mir die Sicht. Die natürliche Reaktion meines Körpers auf die Kälte – das Zähneklappern – hat kaum noch Nutzen. Mein Kopf sinkt immer wieder gegen Thors Brust.
»Eira, hörst du mich noch?«, dringt seine Stimme durch die frostige Abendluft. Sie klingt abgehackt. »Wir sind – fast da.«
Immer wieder die kleinen Wölkchen. Ich versuche, sie mir als warmen Dampf vorzustellen, der aus einem Teekessel dringt. Ein Teekessel mit heißem Wasser. Doch mit meinen Zehen scheint auch mein Kopf eingefroren zu sein. Ich sehe nichts außer der Kälte, kann mir nicht vorstellen, was es anderes noch geben könnte. Mein Körper hört sogar auf, zu zittern. Das Stapfen von Stiefeln im Schnee, das regelmäßige Atmen... in dieser Ruhe könnte ich schlafen.
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Lethargy | ᵗʰᵒʳ ᵒᵈⁱⁿˢᵒⁿ
Fanfiction⟫ Ist es tatsächlich eine Gabe? Oder doch eher ein Fluch? ⟪ ⟫ Niemand in den neun Welten könnte je so zornig auf dich sein, um sich mit einem Fluch an dir rächen zu wollen ⟪ ᴘᴏꜱᴛ ᴀɢᴇ ᴏꜰ ᴜʟᴛʀᴏɴ - ɪɴꜰɪɴɪᴛʏ ᴡᴀʀ Eira steht vor einem...