14| Blaubeermuffins und eine heulende June

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„Alles scheint so zu verheilen wie es soll

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„Alles scheint so zu verheilen wie es soll." Der Arzt vor mir schenkt mir ein erfreuliches Lächeln. „Nehmen Sie die Tabletten, die ich Ihnen verschrieben habe noch regelmäßig?"

Er meint die Schlaftabletten, hoch dosiert. Ich kämpfe wirklich dagegen an, die orangene Dose nicht mitten in der Nacht zu öffnen.   Aber immer öfter kommt es vor, dass mein Gehirn nachts benebelt ist und der nötige Schlaf fast aus meinen Augen quillt, sodass mir keine andere Wahl bleibt.

„Fast jede Nacht", gestehe ich und fühle mich augenblicklich schuldig, obwohl dazu überhaupt kein Anlass ist.

„Die Tabletten sollten ihnen aber langsam geholfen haben zur Ruhe zu finden. Wenn dies nicht der Fall ist, -und die Tabletten, die ich ihnen verschrieben habe, sind sehr stark gewesen, sollten sie darüber nachdenken, einen Therapeuten zu sehen. Medikamente helfen nicht immer dabei, den physischen Schmerz zu lindern, wenn die Ursache psychisch veranlagt ist." Dr. Lane zwinkert mir zu und notiert sich etwas auf seinem Klemmbrett. Ich blicke an mir herunter, verarbeite seine Worte.

„Ich habe Ihnen die Visitenkarten ein paar guter Therapeuten in der nähe herausgesucht, für den Fall, dass Sie Interesse haben sollten."


***


Ich schiebe die letzten Stücke des Blaubeermuffins vor mir hin und her, kämpfe innerlich mit mir, meine Eltern anzurufen. Ich vermisse die Stimme meiner Mutter und den Rat meines Vaters, aber noch mehr Angst habe ich davor, in die Vergangenheit zurück katapultiert zu werden. Denn mir ist bewusst, dass ich zwar seit etwas über einem Monat in Denver wohne und England den Rücken gekehrt habe. Was ich aber dauerhaft versuche zu ignorieren, mir aber immer mehr die Galle hochrutscht, ist, dass meine Eltern in England weiterleben.

Sie passieren weiterhin jeden Tag die Straße, auf der alles geendet hat. Sie leben weiterhin in dem Haus, in dem Jamie aufgewachsen ist und Sie gehen jeden Tag an den Zimmern ihrer beider Kindern vorbei, wohl bewusst, dass Sie wahrscheinlich beide verloren haben. Wie zur Hölle gelingt es ihnen, aufzustehen und den Sinn dahinter zu entdecken, in den Tag zu leben. Und das immer wieder, jeden Tag, jeden Morgen. Noch viel dringender muss ich verstehen, wie es möglich ist, nachts beruhigt die Augen zu schließen, wenn man dauerhaft im Hinterkopf hat, dass Jamie sie nie wieder öffnen wird, seine Augen.

Wieso sollte ich das Privileg haben, jeden Abend zu schlafen und am nächsten Tag voller Energie zu leben, wenn es James nicht vergönnt gewesen ist?

„Schmeckt der MuffIn nicht, oder so? Das halte ich eigentlich für unmöglich, immerhin ist es mein Rezept." Der dunkelblonde Barista greift sich theatralisch ans Herz. Die Gedanken an Jamie verblassen im Hintergrund meines Kopfes, ich könnte Ben für diese Ablenkung umarmen.

„Der schmeckt großartig, wirklich. Ich hab mich wohl einfach ein bisschen überschätzt mit meinem Hungergefühl." Leider ist der Tisch, an dem ich das letzte Mal gesessen habe, besetzt gewesen, deshalb musste ich einen der freien Tische weiter vorne nehmen. Kein Wunder, dass Ben direkt auf mich zukommt, wenn ich wie auf dem Präsentierteller in der Mitte des Raumes sitze und nach außen trage, dass das Essen nicht schmecken würde. Wehmütig sehe ich an Ben vorbei, zu der versteckten Nische, dem besetzten Tisch, dem kleinen Rückzugsort.

„Jetzt ernsthaft", Der Café-Inhaber wirft sich ein Geschirrtuch über die Schulter und nimmt auf dem schwarzen Metallstuhl mir gegenüber Platz. „Du sahst so in Gedanken versunken sein, dass ich dich einfach aus deiner Gedankenspirale befreien musste." Er wirft mir ein Lächeln zu, entblößt dabei die sympathische Zahnlücke zwischen seinen Schneidezähnen. Seufzend raufe ich mir die Haare und nicke ihm bedeutend zu. "Und dafür bin ich dir gerade sehr dankbar." Als die Klingel an der Theke ertönt, rollt Ben mit den Augen und erhebt sich wieder.

Mein Blick folgt seinen Schritten, wandert zu den Personen, die gerade das Café betreten haben.

Oh, ich betrachte die Jeans und den dunkelblauen Pullover, spüre, dass es Tate ist, ohne ihm ins Gesicht gesehen zu haben. Auf seinem Kopf trägt er eine Mütze, bestellt gerade etwas und deutet mit dem Finger auf ein Gebäck in der Vidrine. Neben ihm steht ein anderer Mann, den ich vom sehen ebenfalls kenne. Ich mustere den dunkelhäutigen Typen, der Tate leicht auf den Nacken schlägt und dann ebenfalls seine Bestellung aufgibt.

Mein Blick schnellt wieder zu dem undefinierbaren Idioten, der sich seit einigen Wochen ungebeten in meinem Kopf  herumtreibt.

Seit er mich auf der Party letztes Wochenende beruhigt hat und ich ganze zwei Tage brauchte, um das dort Passierte zu realisieren, habe ich ihn nicht mehr gesehen. Und das ist wirklich auch gut so, denn ich habe keine Ahnung, wie ich ihm unter die Augen treten soll, nachdem er mich so erlebt hat.

Nachdem Tate seinen Kaffee to go und die Tüte mit einem Cookie drin entgegen nimmt, wandert sein Blick kurz durch das Café. Obwohl sich mein Kopf senkt, bleiben meine Augen starr auf ihn gerichtet. Ich kämpfe dagegen an, will seinen Augen eigentlich gar nicht begegnen, aber mein Körper scheint mir in diesem Moment nicht mehr zu gehorchen.

Tate hält kurz inne, als sein Blick auf meinen trifft. Seine tiefgrauen Augen bohren sich in meinen Kopf, und das ohne mir auch nur den Hauch einer Deutung seines Blickes mitzuteilen. Sein Gesicht, der leicht geöffnete Mund, seine gerunzelte Stirn und diese stechenden Augen lassen keinen Platz für Spekulationen, verraten nichts über das, was er gerade denkt.

Also lasse ich von ihm ab, richte meine Augen auf meinen fast leeren Blaubeermuffin, denn die Interpretationen, die von Tates Blick in meinem Kopf entstehen, lassen mich unwohl fühlen. Unbehaglich, als müsse ich mich für irgendetwas schämen.


***


Als ich die Tür zum Wohnheimzimmer aufschließe, springt mir June entgegen, die sich erschrocken von ihrem Bett erhebt und mich mit geröteten Augen ansieht.

„Was ist los, warum weinst du?", frage ich sofort und lasse meine Tasche auf meinen kleinen Schreibtisch neben der Tür fallen.

June fährt sich mit den Fingern unter die Augen und dreht sich kurz von mir weg. Ich kann nicht gut mit ungewohnten Situationen umgehen, eine Schwäche meiner Mum. Denn June weinen zu sehen, tut irgendwo tief in meinem Brustbereich weh. Sie ist ein froher Mensch, lacht gerne und redet viel. Den Kontrast dazu zu sehen, überfordert mich ein kleinwenig.

„Oh Gott, sorry. Das ist irgendwie peinlich." June putzt sich die Nase, während ich mich im Raum umsehe, als könnte ich den Grund für ihr Weinen hier in der Umgebung finden.

„Es ist wirklich nichts. Ich bin nur gerade etwas ... neben der Spur." Als Sie sich zu mir umdreht, schluckt sie und unterdrückt das Zittern ihrer Lippen.

Ich mache einen Schritt auf Sie zu, bemal dir dein Gesicht nicht June, lass es raus, will ich ihr sagen, bringe aber nichts heraus. Stattdessen öffne ich die Arme und biete ihr eine Umarmung an, lasse ihr die Wahl.

Zwei Sekunden nachdem Sie eher mich umarmt, als ich sie, bricht ein unkontrolliertes Schluchzen aus ihr heraus. Zögernd drücke ich sie an mich und fahre ihr über den Rücken. Vielleicht brauche ich auch so eine Umarmung. Vielleicht wird es damit ein wenig leichter. Vielleicht.

„Es tut mir so leid, dass ich gerade vor dir heule. Gott, so bin ich eigentlich nicht." Sie entledigt sich meiner Umarmung und lacht nervös auf.

„Du brauchst dich nicht rechtfertigen", erinnere ich sie. „Jeder hat so Momente. Das ist in Ordnung und auch wichtig so. Wenn du darüber reden willst, stehe ich dir gerne zu Diensten. Und wenn nicht ... stelle ich dir sogar meine Fingernägel zum lackieren zur verfügung." Noch bevor ich den Satz beende, merke ich, wie mir die Röte ins Gesicht steigt. Lange ist es her, dass ich so viel an einem Stück gesagt habe, ja, ich denke viel und mein Kopf ist nie leise, aber die Worte die rauskommen sind gewählt und gering.

„Du bist ein Engel, wirklich. Kann ich mir auch die Seele vom Leib reden, während ich dir die Nägel lackiere?"

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