10| Lieblingsplatz

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Ich fahre mit meinen Fingerspitzen über den blauen Buchrücken und gehe langsam weiter. Es gibt nicht bloß eine kleine Universitätsbibliothek, verdammt, es ist fast ein Museum, -nur, dass man hier alles anfassen kann. Es gibt Bücher von denen ich nicht einmal wusste, dass es über solche Themen Bücher gibt. Es gibt Bücher über alles. Wirklich alles.

Als meine Finger an einem Buch mit einem golden, gebundenen Rand halt machen, bleibe ich stehen und ziehe es heraus. Mit einer Hand, weil ich meinen kaputten Arm noch immer nicht stark belasten kann. Ich hab Schmerzen und dauernd das Gefühl, dass mein Arm die Schrauben nicht annimmt. Meine Finger streichen über die Buchoberfläche. Ich habe keine Ahnung, was sich im Inneren dieses Teils befindet, aber allein die Verpackung dieses Meisterwerks wirkt wahnsinnig beeindruckend. Langsam stelle ich das Buch zurück an seinen Platz und werfe einen Blick auf die riesige Uhr die über dem Eingang hängt.

Ich entferne mich aus der hintersten Regalnische und schlendere durch die Reihen Richtung Ausgang. Dabei versuche ich mit meinen Augen so viel wie möglich einzufangen. Diese Atmosphäre ist atemberaubend. Als mein Blick auf ein paar Sessel fällt, die an den riesigen Fenstern angereiht stehen, bleibe ich ungewollt stehen.

Meine Stirn runzelt sich, als ich Tate auf einem dieser Sessel sitzen sehe. Meine Augen zu Schlitzen verzogen, versuche ich ihn unbemerkt zu beobachten. Auf dem Sesselarm liegt ein aufgeschlagenes Buch und auf seinem Schoß ein Block. Er tippt sich mit einem Kugelschreiber auf seine Lippen und starrt nachdenklich an die Decke.

Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass mich dieser Anblick nicht neugierig machen würde. Seine Füße wippen zu einem bestimmten Takt auf den Boden, obwohl hier nirgends Musik zu hören ist. Wie immer, wenn ich ihn bisher gesehen habe, steckt er in dunklen Klamotten. Einem schwarzen Pullover und Jeans. Heute scheinen ihm seine Haare ausnahmsweise mal nicht im Gesicht zu hängen, stattdessen versucht er sie mit einer Art Tuch zu bändigen. Ich muss fast grinsen bei diesem Anblick, aber auch nur fast, weil ich mich noch rechtzeitig bei dem erwische, was ich gerade dabei bin zu tun.

Kopfschüttelnd gehe ich rückwärts.

"He, pass doch auf", kommt es von hinten und dann höre ich auch schon das Fallen ein paar Bücher auf den Boden. Erschrocken zucke ich zusammen und bücke mich sofort um die gefallenen Teile aufzuheben. Mein rechter Arm ist angewinkelt, mit meiner linken Hand versuche ich dafür umso mehr Bücher auf einmal zu packen.

"Sorry", murmle ich und hebe nur für eine Millisekunde den Kopf. Ich kenne diesen Kerl nicht.

"Ja komm, lass gut sein." Er seufzt und nimmt mir die Bücher aus der Hand, bevor er sich augenrollend an mir vorbei schiebt. Ich presse meine Lippen aufeinander und widerstehe dem Drang diesem unhöflichen Typen etwas hinterher zu rufen. Immerhin befinden wir uns an einem ruhigen Ort und abgesehen davon hätte ich meinen Mund sowieso nicht geöffnet bekommen.

Kopfschüttelnd drehe ich mich wieder um und führe meinen Weg fort. Mein Blick fällt automatisch wieder zu den Fenstern, zu den Sesseln, zu dem dritten Sessel von links, zu Tate. Er starrt nicht mehr an die Decke, ganz im Gegenteil, er sieht mich an. Und er sieht nachdenklich aus, hat die Augenbrauen zueinander gezogen und fährt sich mit seiner freien Hand über die Haare.

Ich seufze und wende den Blick ab, Gott, ich weiß wirklich nicht, was sein Problem ist. Wieso er mich immer so grimmig ansieht.

Ich schultere mir meine Tasche auf und suche gleichzeitig darin nach meinem Handy. Fast hätte ich es fallen lassen, als mich jemand an meinem Arm berührt.

"Elle, bist du nachher auf deinem Zimmer?"

Mir fallen fast die Augen aus dem Kopf als ich mich umdrehe und Tate vor mir steht. Er überragt mich um mehr als einen Kopf, was mir vorher noch gar nicht aufgefallen ist. Aber das ist wohl nicht unbedingt das, auf das ich achten sollte.

unpainted facesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt