29| der Schokoladenvorrat

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Ich starre auf meinen Handybildschrim, swipe mit meinem Finger immer wieder nach rechts um mehr und mehr Erinnerungen in mich aufnehmen zu können.

Sei es der Familienurlaub in Rom, weil Jamie unbedingt original-italienisches Eis auf seiner Zunge schmecken musste. Oder der Wochenendausflug in den Freizeitpark, indem James beim anstehen einer Achterbahn plötzlich angefangen hat zu weinen, weil er solche Angst hatte. Es ist ungewohnt, dass sich mir beim Anblick dieser Bilder ein trauriges Lächeln auf die Lippen stiehlt. Er würde in dieser Woche dreiundzwanzig werden.

Er würde jetzt mitten in seinem Studium stecken, aber immer noch genug Zeit finden uns zu besuchen. Er würde mitten in Klausurenphasen stecken und von der einen auf die andere Studentenparty wandern. Er würde seine Zwanziger voll und ganz auskosten, wenn er nicht von jetzt auf gleich aus dem Leben gerissen worden wäre. Tief im Inneren weiß ich, dass ich nicht wirklich etwas dafür konnte, dass der Truck uns die Vorfahrt genommen hat und mit vollem Speed in James Seite reingerannt ist.

Aber dieses 'nicht wirklich etwas dafür können' ist ziemlich gut vergleichbar mit einem 'hätte ich besser aufgepasst, wäre ich langsamer und vorsichtiger gefahren, würde er noch da sein'.

Und genau das übertont jeden anderen Gedanken an die Realität und wie es rational gedacht abgelaufen ist, sodass immer mehr Platz für Schuldgefühle und eine verschleierte Version der Geschehnisse gemacht wird. Es passiert automatisch und ich kann mich nicht mal wirklich dagegen wehren. Dafür gibt es keinen einzigen Pol in meinem Körper der auch nur versucht gegen solche Gedanken anzukämpfen.

„Sag mal, Elle. Wann hast du eigentlich das letzte Mal etwas gegessen?" Ich zucke erschrocken zusammen als ich Junes Stimme höre. Seit Stunden habe ich keinen einzigen Mucks in diesem Zimmer gehört, -bis auf das leise Flackern meiner Vanille-Duftkerze. Ich bin davon ausgegangen meine Mitbewohnerin sei noch unterwegs.

Als ich ihr jetzt einen Blick zuwerfe und mich währenddessen von der Fensterbank direkt neben meinem Bett wegdrehe, trägt sie einen besorgten Ausdruck auf ihrem Gesicht. Und ich kann es ihr nichtmal verübeln. Seit heute Morgen habe ich mein Bett erst einmal verlassen, um mich im Gemeinschaftsbad zu waschen. Seit über einer Stunde starre ich auf mein Handy. Seit mehreren Stunden habe ich kein Wort gesagt und auch jetzt habe ich das Gefühl, selbst wenn ich meine Lippen öffnen würde, würde nicht wirklich viel heraus kommen.

June trägt ein Jeanskleid mit Strickpullover drunter, -beides hat sie sich von mir geliehen. Sie sieht von ihrem Schreibtisch auf, schiebt den Stuhl ein weites Stück zurück um auf mich zuzukommen und sich auf meine Bettkante zu hocken. „Hey", macht sie und lächelt mich an. Ihre Gesichtszüge dabei ganz weich.

„Mir geht es nicht so gut. Ich glaube, ich habe mir gestern beim arbeiten etwas eingefangen oder so." Es ist ungewohnt, den Raum mit meiner Stimme zu füllen. Ich fühle mich schlapp, müde und habe Kopfschmerzen.

„Was belastet dich? Du kannst mit mir reden, Elle. Du kannst dich von mir aus den ganzen Tag bei mir ausheulen." Ich weiß, dass sie es nur gut meint, aber- Sie steht auf, wandert rüber in ihre Seite des Zimmers und zieht einen kleinen Karton unter ihrem Bett hervor. Mit breitem Lächeln kommt sie damit zurück zu mir.

"Das ist mein Schokoladenvorrat. Der ist nur für die allergrößten Notfälle. Aber ich teile gerne." Sobald ich einen kurzen Blick in den alten Schuhkarton geworfen habe, schleicht sich ein kleines Grinsen auf meine Lippen. Von Reeses, Schokoladentafeln, Waffeln bis hin zu Schokobons ist alles durcheinander gewürfelt dabei.

„Los, bedien dich. Und bitte erzähl mir endlich was los ist." Sie selbst zieht sich einen Schokobon heraus und wickelt das Papier ab. Ich schlucke und wende kurz den Blick ab. Es regnet in Strömen.

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