12| Fremdkörper

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Die Gedanken an Tate lassen nicht locker. Im Gegenteil. Es wird immer schlimmer, so schlimm sogar, dass ich rein gar nichts aus meiner dritten Vorlesung mitgenommen habe. Seufzend packe ich meine aufgeschlagenen Bücher zusammen und sehe mich nach jemandem im Raum um, der mir eventuell seine Notizen zur heutigen Stunde leihen könnte. Aber ich kenne hier noch niemanden und mein Puls beginnt schon von alleine zu rasen, wenn ich auch nur daran denke, einen Fremden hier ansprechen zu müssen. Also schiebe ich den Gedanken schnell beiseite und lasse meinen Kopf in Ruhe über Tate grübeln.

Ich habe ihn nicht gesehen, seit er vor einer Woche in meinem Wohnheimzimmer gewartet hat und mich mit Fragen bombardiert hat, auf die ich selbst keine Antwort habe. Schon einige Male bin ich wirklich kurz davor gewesen, June über ihn auszufragen. Aber dann erinnere ich mich immer wieder daran, warum ich eigentlich nichts mit ihm zu tun haben will. Und vor allem, warum es besser wäre, ihm aus dem Weg zu gehen.  Jamie hat immer zu mir gesagt, dass ich mich von den Menschen fernhalten soll, die mich unbehaglich fühlen lassen. Und Tate steht auf der Liste dieser Menschen ganz oben.

"Elle!", June winkt mich zu sich. Sie sitzt mit ein paar Leuten auf der Wiese vor dem Kampusgebäude. Erschrocken darüber, dass ich ganz kurz in Erwägung gezogen habe, so zu tun, als hätte ich sie nicht gehört, steige ich die Treppen hinunter und bewege mich in ihre Richtung.

Sobald ich meine Lippen zu einem Grinsen verziehe, weiten sich Junes Mundwinkel zu einem Lächeln. Tatsächlich hätte ich nicht gedacht, dass ich mich so gut mit ihr verstehen würde. Zwar sieht sie mich manchmal so an, als hätte sie Angst, dass ich, sobald ich einschlafe, nicht mehr aufwache, aber sie fragt nicht. Sie fragt nie und das ist eine Eigenschaft, von der ich gar nicht gewusst hatte, dass ich sie so schätze. June gibt mir den Raum den ich brauche und bringt mich zum lachen, wenn ich das Gefühl habe, meine Mundwinkel sind schon steif geworden.

"Du machst mir einen viel zu gestressten Ausdruck, Elle. Hast du heute noch eine Vorlesung?", fragt sie, sobald ich mich neben sie auf die Wiese gesetzt habe. Ich lächle in die Runde, erkenne den Typen, der vor ein paar Wochen mit Tate in unserem Zimmer war, als ich geschlafen habe. Neben ihm sitzt ein Mädchen, dass sich etwas wegdreht, um ihren Zigarettenqualm nicht in unsere Richtung zu pusten.

"Nope, das wars für heute." Und damit bin ich sowas von reif für das Wochenende, bestehend aus der Bibliothek und meinem Bett.

"Okay, das ist super, du musst mir nämlich einen Gefallen tun." June kneift ihre Augen zusammen und legt einen Arm um meine Schulter. Ich habe gar keine Zeit darüber nachzudenken, was für einen Gefallen Sie von mir haben möchte, da sie direkt in die Hände klatscht und weiterspricht: „in den Mountains ganz hier in der Nähe, findet heute Abend eine Party statt - zu Ehren der Erstsemestler. Du musst mitkommen!" Dass ich von einem solchen Gefallen nicht wirklich überzeugt bin und in mir eher ein ausweichendes als ein euphorisches Gefühl hochkommt, muss ich wohl nicht erwähnen.

„Ich weiß nicht, June." Meine Stimme senkt sich, damit die beiden Leute, mit denen meine Zimmermitbewohnerin hier sitzt, nichts von meiner Absage mitbekommen. „Ich telefoniere heute Abend noch mit"-, June unterbricht mich, in dem Sie theatralisch seufzt und mit dem kopf schüttelst. „Du musst dir keine Ausreden einfallen lassen. Ich weiß, dass du mit niemandem telefonierst. Nimm es mir nicht übel, liebste Elle, aber du bist eine Person, die absolut nicht lügen kann." Die rothaarige Schönheit macht einen zerknirschten Gesichtsausdruck. Auf die Schnelle habe ich keine Ahnung, was ich darauf antworten soll. Denn Sie hat Recht. Natürlich telefoniere ich weder mit meinen Eltern, noch Holly  oder Timothy.

„Das ist schon okay, Elle. Ich weiß, dass du gerne alleine bist. Aber ich versuche bloß, dich etwas aus dir heraus zu locken. Denver ist gar nicht mal so blöd und unsere Kommilitonen, von denen du keine Ahnung hast, dass sie existieren, sind total cool drauf. Du verpasst etwas, wenn du weiter jeden Tag bloß vom Kampus zu unserem Zimmer hin und her pendelst." Ich weiß, dass sie Recht hat und ich weiß auch, dass mir Kontakt zu Menschen in meinem Alter wahrscheinlich gut tun würde. Warum bloß, bin ich so eingeängstigt von der Welt, dass ich mich nicht mal traue auf eine stinknormale Party zu gehen. Wie Leute das in meinem Alter nun mal machen.

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