38| du bist eben nicht alleine

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Ich hole tief Luft und warte ab. Dass ich diese Worte schon viel länger hätte aussprechen sollen, wird mir in dem Moment bewusst, in dem sie mir von der Zunge gleiten. Gott, wenn ich daran denke, wie absolut egoistisch ich mich verhalten habe, wird mir fast schlecht. Abgesehen davon benötige ich verdammt viel Kraft dafür, den Blick nicht abzuwenden.

 Tates Augen sind grau. Grau trist und grau verschlossen. Und es ist das schönste grau, das ich jemals gesehen habe. Wahrscheinlich hatte ich, bevor ich ihm wirklich in die Augen gesehen habe, absolut keine Ahnung davon, wie tief so ein grau eigentlich sein kann. Als wären die Grenzen auf der Farbpalette total verschwommen und wage zurecht gesetzt worden.

 Aber ich wende den Blick nicht ab, auch wenn es mir Angst macht. Denn ich sehe dich, Tate. Und ich stehe gerade so nackt vor dir, wie noch nie vor irgendjemandem. Also bitte blocke mich jetzt nicht ab, weil ich weiß, dass ich es dann nicht noch einmal versuchen würde.

„Ich glaube, ich habe dich noch nie so viel an einem Stück sprechen hören." Tates Stimme ist eine Mischung aus einem überraschten Glucksen und einem zittrigen Raunen. Hat er auch Angst? 

„Du willst wirklich hier rein, oder?", er fasst sich ebenfalls ans Herz und ich weiß ganz genau, dass wenn Noah jetzt ins Wohnzimmer treten würde, er schnurstracks wieder hinaus marschieren würde. Denn Tate und ich sitzen uns auf dem Sofa gegenüber, fassen uns ans jeweilige Herz und sehen uns so intensiv an, dass ich mir sicher bin, dass es an Intimität kaum getoppt werden kann. Ich schlucke, bin mir bewusst, dass ich ihm wahrscheinlich eine Antwort schulde. Also befehlige ich meinen Kopf dazu zu nicken, weil ich die Worte dafür nicht finde.

„Dann kannst du keinen Rückzieher machen, Elle." Er schüttelt langsam den Kopf, während sich ein beinahe trauriges Lächeln auf seine Lippen schleicht. „Weil ich die Leute, die es einmal bis dahin geschafft haben, nicht mehr heraus lasse."

Ich blinzle und kann nicht verhindern, dass ich zitternd ausatme. Ich habe bis zu diesem Zeitpunkt nicht daran gedacht, dass mir Tate vermutlich sehr viel bedeutet. Dass er der einzige Mensch ist, dem ich vertraut habe, ohne dass ich mir vertraut habe. Und die Kenntnis trifft mich so unvorbereitet, dass ich für einen kurzen Augenblick die Augen schließen muss.

 Ich weiß, dass er es mir wahrscheinlich nicht übel nehmen würde, wenn ich mich jetzt aufrichte und gehe. Er lässt mir bewusst die Wahl, weil er weiß, wie es sich anfühlt enttäuscht zu werden. Und ob ich dafür bereit bin? Gott, ich habe keine Ahnung, ob ich es verkrafte noch weiter zu fallen, diesmal mit in Tates Gedanken hinein. Möglicherweise so tief, dass sich unsere Gefühle miteinander vermischen würden. Ich schenke dem jungen Mann mir gegenüber ein Grinsen, als ich die Augen wieder öffne.

 „Du bist eben nicht alleine." Ich zucke mit den Achseln, weil es, wenn man es rational betrachtet genau so einfach ist. Wenn man es zulässt. Und wenn man das dann überwunden hat, ist das Gefühl, welches in mir hoch kommt berauschend. Möglicherweise auf eine gute, hoffnungsvolle Art und Weise. Immer auf die aufregende Art, weil das Wissen, nicht alleine zu sein so viel mehr Wert ist, als ich angenommen hätte.

„Du auch nicht. Versprochen." Tate nickt mir zu, als würde ich den Ernst hinter seinen Worten nur damit wirklich verstehen. Aber ich weiß, was er meint, ich verstehe ihn wirklich. Weil ich mir, obwohl ich nicht erklären kann warum, ziemlich sicher bin, dass er sein Versprechen halten wird. Die Euphorie, die daraufhin in mir entsteht, lässt sich nicht mehr einhalten. Dafür hat es mich zu viel Konzentration gekostet, bis hierhin zu kommen. 

Also mache ich das, was mir als Erstes in den Sinn kommt, weil ich, wie in letzter Zeit viel zu oft, feststelle, dass die Worte mir dann, wenn ich sie wirklich brauche, im Hals feststecken. Und genau so springe ich Tate dann um den Hals, mache einen kleinen Satz nach vorne und lege meine Hände um seinen Nacken, um ihn zu umarmen. Insgeheim befehlige ich meiner Nase dabei, nicht zu tief einzuatmen, damit Tate nicht merkt, wie tief ich den Geruch seiner Vertrautheit in mich einnehme. Ich bin fast so sehr damit beschäftigt darauf zu achten, dass ich kaum mitbekomme, dass Tate sich total versteift hat und zögert. 

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