37| wie du mir, so ich dir

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„Einen extra-großen schwarzen Kaffee für meine lieblings-Engländerin und einen verdammt verdienten Pumpkin Spice Latte für mich." June stellt mir eine dampfende Tasse vor die Nase. 

Obwohl ich heute nicht in Bens Café arbeiten muss, haben wir uns hierhin verzogen um zu lernen. Morgen steht meine letzte Klausur fürs Erste an und ich weiß nicht, ob ich aus diesem Grund erleichtert sein sollte oder voller Panik unter meiner Bettdecke verschwinden sollte. June schreibt ihre Klausur zur gleichen Zeit wie ich und ist damit auch für das Semester durch. Ohne übertreiben zu wollen, bin ich komplett am Arsch. 

Tatsächlich nicht, weil ich nachts kaum Schlaf bekomme, vielmehr, weil ich mir so verfluchte Gedanken um alles mache. Ich habe unfassbar viel getan für die Klausur. Habe mir die Woche extra frei genommen, obwohl Ben mir das ohnehin angeboten hat für die Klausurenphase. Ich stehe zu Zeiten auf, in denen June gerade ihren Laptop zur Seite schiebt um dann bis Mitten in den Tag zu schlafen.

„Es ist übrigens so krass von Vorteil, dass du hier arbeitest. Ben ist so spendabel drauf." June lässt sich auf den Stuhl mir gegenüber fallen und überschlägt sofort die Beine. Ansätze eines wissenden Grinsen bilden sich auf ihren Lippen.

 Ich fahre mir durch die Haare und sehe sie fragend an. Gott, ich will gar nicht wissen wie ich aussehe. Meine Haare sind ungewaschen seit ... 5 Tagen. Ich glaube ich habe den Dutt nicht gelöst seit ... fast 3 Tagen. Die Erkenntnis trifft mich vollkommen unvorbereitet, weil mir das normalerweise nicht passiert.

 Ich verliere mich zwar fast täglich so sehr, dass ich nicht schlafe und zu viel denke, aber ich achte darauf, wie ich aussehe. Damit wenigstens etwas in Ordnung zu sein scheint. Und gerade jetzt bin ich mir sicher, dass man mir ansieht, wie absolut dreckig ich mich fühle.

„Elle?", June hebt eine Augenbraue. Das Lächeln auf ihren Lippen scheint breiter geworden zu sein, was ich eigentlich als gutes Zeichen deuten sollte, weil sie mich noch nicht auf mein Erscheinungsbild angesprochen hat. Obwohl die Chance besteht, dass sie darüber hinweg sieht und höflich sein will, weiß ich, dass es nicht so ist. Definitiv nicht, dafür ist June zu direkt.

„Hm?", frage ich, klicke dabei den Kugelschreiber in meiner Hand zu und hebe beide Arme um mich zu strecken. Einfach alles fühlt sich verspannt an.

„Ben hat uns gerade den dritten Kaffee an nur einem Tag ausgegeben. Ich sage es dir, der scheint dich ganz schön zu schätzen als Angestellte." June verschränkt die Arme vor der Brust. Sie hebt einen Finger um zu verdeutlichen, wie ernst sie das meint. Und ich rolle mit den Augen, weil Gemma auch schon damit angefangen hat und es nicht stimmt. 

Ben ist toll und ein super Chef. Er hat Verständnis dafür, dass ich ein paar Minuten länger im Personalraum brauche, dafür dass ich oft kurz verschwinde, um tief durch zu atmen. Dafür, dass ich mit Ränder unter den Augen hier ankomme, die größer als Teller sind und dunkel wie tiefe Höhlen ... und er schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln, stellt mir wortlos eine Tasse schwarzen Kaffee hin und spricht mich erst an, wenn ich mit der Schürze ins Lokal trete. Dass er so ist, hat nichts damit zu tun, dass er mich besonders gerne mag und mich beeindrucken will. Vielmehr habe ich das Gefühl, dass er das irgendwie versteht. Dass es für ihn möglicherweise auch so Tage gibt.

„Hör auf, June. Du weißt, dass er bloß mein Chef ist." Ich setze mich aufregt hin und versuche mir unauffällig die blassen Strähnen hinter meine Ohren zu schieben.

„Wir haben lange nicht über dieses Thema geredet", merkt meine Zimmermitbewohnerin an und lehnt sich etwas nach vorne um mir genau in die Augen sehen zu können.
„Über Ben?", verwirrt lehne ich mich zurück und umklammere mit beiden Händen die dampfende Tasse vor mir. Das tut so gut, dass ich kurz davor bin die Augen zu schließen.

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