3| Vergessen geht anders

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"Ich kann nicht fassen, dass du das getan hast, Elle!", wirft mir meine Mutter jetzt schon zum zehnten Mal an den Kopf. Sie klingt nicht wirklich wütend, viel mehr erleichtert, dass sie mich endlich zu hören bekommt. Ich hatte in den letzten 24 Stunden mehr als zwanzig verpasste Anrufe und über dreißig Nachrichten. Ich hatte ja keine Ahnung, dass mein Entschluss so ausarten würde.

"Wir hätten darüber reden können. Du hättest mit uns sprechen können, das weißt du doch, Elle, oder?", ich kann mir bildlich vorstellen, wie ihre klaren Augen sich in mich hinein bohren. Ihre Stirn wird gerade wahrscheinlich in Falten liegen, ihre Haarsträhnen, wie immer lose aus ihrem Dutt hängen.

Ich seufze und kicke einen Kieselstein weg. "Natürlich weiß ich das Mum. Es ist nur...-", ich zögere und atme tief durch. "Ich musste raus, verstehst du. Ich bin zu Hause eingegangen. Und ich spüre einfach, dass die Entscheidung zu gehen, richtig gewesen ist."

Kurze Zeit höre ich nichts. Ich glaube, sie hat ihre Hand auf das Mikro gedrückt, um mit Dad zu sprechen, ohne, dass ich es mitbekomme.

"Du hättest uns früher anrufen können, wir sind fast umgekommen vor Sorge", murmelt sie dann. Ihre sanfte Stimme ist wie Musik in meinen Ohren. Natürlich ist mir deutlich bewusst, dass ich, nach allem, was passiert ist, wirklich früher hätte anrufen müssen. Aber ich schätze, ich bin einfach nicht bereit dafür gewesen. Ich musste mir erst sicher sein, dass Denver eine langfristige Entscheidung ist.

Und da bin ich mir jetzt sicher. Schließlich habe ich keine Ahnung, was ich sonst machen soll. "Ich weiß, es tut mir leid." Ich lege meinen Kopf in den Nacken und starre an den Himmel. Keine einzige Wolke am Himmel. In Brighton ist es bestimmt am regnen.

"Wie ist es in Denver?", höre ich plötzlich Dads Stimme durch den Hörer. Meine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. Na ja, zumindest zu Ansätzen.

"Heiß. Und...amerikanisch." Ich höre Dad herzlich lachen und kann mir vorstellen, wie sich Lachfalten um seine kleinen Augen, unter der runden Brille bilden. "Ich hatte noch keine Zeit, mir die Stadt anzusehen. Aber das College ist schön. Mit sehr viel Grünfläche." Ich glaube, meiner Mutter würde es hier gefallen.

Sie lässt sich gerne von allem Möglichen inspirieren. Und hier gibt es tatsächlich eine Menge, die einen inspiriert. Mum ist ein wahres Naturtalent was Kunst angeht. Sie fotografiert alles Mögliche und es sieht jedes Mal unfassbar genial aus. Ihre kleine Galerie mit Bildern und Fotos ist ziemlich bekannt in meiner Heimatstadt.

"Ich kann nicht fassen, dass du es gemacht hast."

Nicht sicher, was mein Dad meint, hake ich unschlüssig nach.

"Dass du es durchgezogen hast, dich einfach in den Flieger zu setzen. Ich bin stolz auf dich, Elle. Unfassbar stolz und ich hoffe, das weißt du. Ich wusste, dass du nicht aufgeben würdest." Seine Stimme ist etwas leiser geworden, ich nehme an, Mum ist im Nebenraum verschwunden und er will das Risiko nicht eingehen, von ihr gehört zu werden.

Ich schlucke den Kloß, der sich wie aus dem Nichts in meinem Hals festgesetzt hat, hinunter und richte den Blick wieder auf die wenigen Menschen vor mir. "Danke", presse ich hervor. Ich weiß, dass mein Vater die Worte ernst meint, aber es fällt mir schwer, ihm zu glauben.

Ich weiß nämlich nicht, ob ich es nicht genau in dem Moment mache. Ob ich hier in Denver bin, um aufzugeben. Ich meine, Gott, ich habe keinen Plan von meiner Zukunft. Für mich stand doch schon alles fest. Ich hätte in Kalifornien studiert, wäre in einem der besten Schwimmteams des Landes gewesen und hätte für Meisterschaften trainiert. Und jetzt? Jetzt habe ich nichts mehr. Es ist so, als hätte jemand die Luftblase um mich herum zerstochen. Einfach so, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, wie ich mich dabei fühle.

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