33| Herzensessen

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„Sag mir wenigstens wie es dir physisch geht? Hast du noch irgendwo Schmerzen?", sobald Noah im Flur verschwunden ist, um die Wohnungstür zu öffnen, senkt sich Tates Stimme und er inspiziert mit seinen Augen meine Wange.

Die Wunde tut weh beim lachen, aber ich bin in diesem Moment so fasziniert davon, zu lachen, dass der Schmerz im Hintergrund verblasst. Was mir mehr Sorgen macht ist mein Arm. Die Stelle, an der die Schrauben eingesetzt sind, ist angeschwollen.

„Ich gehe Morgen zum Arzt", zur Verdeutlichung hebe ich den Arm etwas an, um ihm das mir Sorgen bereitende Problem zu zeigen. Er zieht scharf die Luft ein. „Morgen erst? Wir können je"-, er wird durch eine aufgebrachte June unterbrochen, die stürmisch ins offene Wohnzimmer tritt.

„Gott, da bist du ja." Sie rauft sich die Haare, als sie mich neben ihrem Stiefbruder sitzen sieht. Ihre roten Strähnen fallen ihr in wilden Locken über die Schultern. Obwohl das wahrscheinlich gerade Nebensache ist, steht ihr der wilde Look extrem gut.

„Hast du mal auf dein Handy geschaut? Ich habe so oft versucht dich zu erreichen!" Sie fällt mir um den Hals, ohne dass ich sie daran hindern kann oder eine Chance habe, ihre Aufregung zu lindern. Dass mir durch den Druck ihrer Arme ein Schauer des Schmerzes den Rücken hinunter läuft, versuche ich so gut es geht mit einem tiefen Luft-Holen abzutun.

„Was ist passiert? Mit deinem Gesicht? Bei Gott, wo bist du den ganzen Tag gewesen?" Meine Augenbrauen sind so weit nach oben gerutscht, dass sie eigentlich fast schon im Haaransatz hängen müssten. Ich bin viel zu verwirrt, um June auf ihre vielen Fragen zu antworten. „Was habe ich verpasst?"

„Komm mal runter, June. Warum bist du so aufgebracht?", mischt sich Tate ein, verschränkt die Arme vor der Brust und sieht seine Schwester mindestens genau so verwirrt an wie ich.

„Warum ist niemand von euch ans Handy gegangen?", will sie stattdessen wissen und wirft frustriert die Arme in die Luft. „Ich habe mir verdammte Sorgen gemacht."

Ich räuspere mich, versuche meine Stimme so fest wie möglich klingen zu lassen. „Aber was ist denn passiert?", frage ich.

Aber June lacht nur hysterisch auf, sieht mich dann aber etwas sanfter an. „Als ich heute Morgen ins Zimmer gekommen bin, ist deine Seite komplett verwüstet gewesen. Und du bist den ganzen Tag nicht zurück gekommen. Ich dachte, du hättest vielleicht spontan eine Schicht bei Ben übernommen, als ich dort aber angetanzt bin, hat er mir gesagt, dass du komplett neben der Spur gewesen bist, als du dort heute Mittag aufgetaucht bist. Ich habe dir so oft geschrieben und dich versucht anzurufen. Ich dachte sonst etwas wäre passiert und was ist mit deinem Gesi"-

Noah unterbricht ihren Redefluss, in dem er sie links und rechts an den Schultern packt. „Scheiße, June. Vergiss nicht zu atmen und mach mal halblang!"

„Ich habe nicht dran gedacht", gestehe ich und um ehrlich zu sein habe ich auch keine Ahnung, wo sich mein Handy befindet. Gott, dass June so aufgebracht ist, ist allein meine Schuld. „Es tut mir so leid!", ich schüttle leicht den Kopf, bin völlig überfordert.

Sobald meine Worte zu ihr durchzudringen scheinen, atmet sie tief durch, macht sich von Noahs Armen frei und seufzt leise. „Wo warst du? Und woher kommt die Wunde auf deiner Wange?"

Wo war ich? Gefangen in meinem verfluchten Kopf, verloren in meinen Gedanken, in dem Gefühl einsam zu sein und versagt zu haben. Auf der Suche nach Freiheit. Wie kann ich irgend jemandem davon erzählen mit dem Wissen ohnehin nicht verstanden zu werden.

Und ich will June antworten, ich will ihr sagen wo ich war und ich will ihr den besorgten Ausdruck aus den Augen wischen, ich will Noahs Stirnrunzeln loswerden und Tates intensiven Blick von mir reißen. Aber es geht nicht, weil einfach kein einziger Wortlaut aus mir heraus kommt. Weil ich plötzlich das Gefühl habe, keine Luft mehr zu bekommen. Als würde etwas den Weg aus meiner Lunge heraus nach oben blockieren. Und ich bin so in der Trance gefangen, dass ich nichts dagegen tun kann, außer heftig nach Luft zu schnappen.

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