~ Vergangenheit und Zukunft ~

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Emilians pov.

Für einige Augenblicke dachte ich, dass ich sterben würde. Doch dann zog mich der Typ hoch und stieß mich weg. Vor meinen Augen war alles verschwommen und ich rang verzweifelt nach Atem, als mich auch schon starke Arme umfingen. Im ersten Moment war ich geschockt, doch dann hieß mich Kalvins vertrauter Geruch nach Seewasser und Schießpulver willkommen und ich entspannte mich zunehmend in seinen Armen. Mein ganzer Körper fühlte sich entsetzlich schwer an und ich hätte am liebsten geweint, doch dazu hatte ich nicht die Kraft, weshalb ich mich einfach nur erschöpft am Hemd des Älteren festhielt und mein Gesicht an dessen breiter Brust vergrub. Mir war egal, wer uns alles sehen konnte und ob das richtig oder falsch war, gerade brauchte ich Sicherheit und die bedeutete der Andere für mich.

Ich verstand nicht, was um mich herum gesprochen wurde und kam erst etwas mehr zu mir, als Kalvin mich sehr sacht hochhob. Ich wollte am liebsten protestieren, doch als ich die Augen öffnete und ihn ansah, sagte mir sein Blick, dass Proteste nichts nützen würden und so schloss ich die Augen einfach wieder erschöpft und ließ mich von ihm zurück zu Dochers bringen.

Als er mich die schmale Laufplanke hinüber trägt, die als Landungssteg dient, redet er mit jemandem. Doch um ehrlich zu sein, bin ich zu erschöpft und zu verfroren, um seinen Worten irgendeinen Sinne beimessen. Am Rande bekomme ich nur mit, dass Kalvins Hemd mittlerweile vollkommen durchnässt ist, weshalb ich wieder stärker zu zittern beginne. Doch da setzt er mich auch schon ab und ich blinzle etwas verwirrt, während ich etwas mehr zu mir komme und der Schock langsam nachlässt.

Die Schiffsärztin Chris kommt auf mich zu und lächelt sanft. Ihr langer blauer Rock und die weiße Schürze erinnern mich irgendwie an mein erstes Kindermädchen, doch ich verdränge den Gedanken rasch wieder und sehe zu ihr hoch, während sie meine Stirn fühlt.

"Du warst sehr mutig, aber auch ziemlich töricht." Ob mehr Lob oder Tadel in ihrer Stimme liegen vermag ich nicht zu deuten, doch ich lächle nur schüchtern und zucke mit den Schultern. Ich hatte nur helfen gewollt, mehr nicht.

Dann fällt mir etwas auf und ich sehe mich nervös im Krankenzimmer um. Doch Chris streicht mir beruhigend durch die Haare. "Ist schon okay. Er hat gesagt, dass er sich umziehen will und dir neue Sachen holen, dann kommt er wieder." verspricht sie und ich werde etwas rot. Ich hatte wohl ziemlich verzweifelt ausgesehen, angesichts der Tatsache, dass Kalvin nicht mehr im Raum war und ich hoffte wirklich, dass sie das auf die Erschöpfung meinerseits schob.

Schweigend ließ ich mir aus den nassen Kleidern helfen und nahm dankbar die Decke an, die mir die Ärztin reicht, bevor sie mich zu untersuchen beginnt. Ihre Hände sind warm und rau, was eine erstaunlich angenehme Kombination ist. Deshalb lasse ich zu, dass sie abtastet und zu dem Schluss kommt, dass bei mir nichts ist, dass etwas heißes zu Essen und etwas Schlaf nicht wieder richten können.

Als Kalvin wieder in den Raum tritt, lächelt sie ihm zu und verlässt die Krankenstation, während der größere mir ein frisches Hemd, Unterkleider und eine Hose reicht. Etwas unsicher rutsche ich von der Pritsche und wende ihm den Rücken zu, bevor ich schnell in die warmen und trockenen Kleider schlüpfe. Sofort fühle ich mich etwas besser, da langsam die Wärme in meine Knochen zurückkehrt. Tief atme ich durch, bevor ich mich umdrehe.

Nun stehen wir uns beide gegenüber und wissen vermutlich beide nicht, was wir sagen sollen.

"Komm, du schläfst heute bei mir." sagt Kalvin erstaunlich sanft und streckt mir die Hand entgegen. Als Kinder sind wir oft Hand in Hand gelaufen, doch wir waren keine Kinder mehr und ich hatte gelernt, was sich in der Gesellschaft gehörte. Meine Gefühle für ihn gehörten sich beispielsweise nicht, doch ich konnte selbst in diesem Moment nicht verhindern, dass mein Herz höher schlug und ich nicht lieber tun würde, als nah bei ihm zu sein.

Ich wollte gerade protestieren, als der erste Maat meinen letzten Widerstand bröckeln ließ, wie trockenen Mörtel. "Es ist okay Emilian. Dieser Ort ist sicher." Die Art wie er meinen Namen aussprach, ließ meine Knie weich werden und meine Beine gaben unter mir nach. Zum Glück fing Kalvin mich rechtzeitig auf, bevor ich vor seinen Augen umkippte und ich klammerte mich zum zweiten Mal an diesem Tag an seinem Hemd fest.

"Wie meinst du das?" fordere ich zu wissen und sehe in seine dunklen Augen, die so voller Sanftheit waren. "Wieso bist du damals gegangen? Warum bist du nie zu mir zurückgekommen? Warum hast du dich nicht verabschiedet?" Die ersten Tränen bahnen sich den Weg über meine Wangen und so gern ich ihm böse sein möchte, ich kann nicht. Die Art, wie er mich jetzt sanft im Arm hält und immer wieder wispert, dass er jetzt da sei und wir beide sicher waren, entschädigte mich für die Jahre der Einsamkeit. Ich hatte kein schlechtes Leben geführt und doch hatte mir immer etwas gefehlt, eine Sache für die ich bereitwillig alles aufgegeben hatte. Denn diese eine Person bedeutete mir mehr als alles andere und jeder einzelne Tag des warten war es wert gewesen, wenn wir tatsächlich eine Zukunft haben sollten.

Kalvin streicht über meine Wangen und wartet, dass ich mich beruhige. Dann beginnt er leise zu sprechen. "Ich wollte nicht gehen. Doch jemand hat uns beobachtet. Er hat gesehen, dass ich dich geküsst habe." wispert er und lächelt matt. "Meine Eltern stellten mich vor die Wahl, entweder du oder ich müssten dafür bestraft werden. Sie hatten wohl nicht damit gerechnet, dass ich akzeptieren würde verstoßen zu werden, um dich zu schützen. Sie verboten mir mich zu verabschieden. Doch ich habe an jedem einzelnen Tag an dich gedacht. Ich habe einen Ort gefunden, an dem man mich so akzeptiert wie ich bin. Ich habe diesen Ort für uns gefunden." Er sieht traurig aus, als er weiter spricht. "Ich wollte dich holen kommen, doch als ich dich sah, da saßt du lachend mit einigen Jungen im Park meiner Eltern und ich wollte dich nicht aus deiner Welt reißen."

Ich schlucke schwer und lächle matt. Kalvin hatte mich unbedingt an einem der wenigen fröhlichen Momente finden müssen. Natürlich hatte er dann gedacht, dass ich weiter gemacht hatte. "Ich habe jeden Tag gewartet." erwidere ich sanft und lehne mich an ihn, während er mich einfach im Arm hält. "Ich wäre damals mit dir gekommen." "Ich weiß, doch ich wollte für dich sorgen können. Das kann ich jetzt." wispert Kalvin. Dann wird er ernst. "Emilian. Ich weiß, dass ich mich in den letzten Jahren verändert habe, doch ich verspreche dir, dass ich alles für dich tun würde und dich nicht erneut verlassen werde." Ich muss fast ein wenig Lächeln und schüttle den Kopf. "Falls es dir aufgefallen ist, ich habe mich auch verändert. Doch Kalvin meine Gefühle für dich werden sich niemals ändern. Egal ob die Gesellschaft sagt, dass es falsch ist oder unrein. Ich will mein Leben mit dir verbringen..." 

Weiter komme ich nicht, da der Größere mich in diesem Moment sehr sanft küsst und ich mich ihm entgegen lehne. Dieser Kuss zeigte mir, dass ich hier alles hatte, was ich je in meinem Leben brauchen würde.

"Na komm. Wir gehen in meine Kajüte." haucht er sanft und legt mir einen Arm um die Taille, um mich bis zu seinem Einzelschlafgemach zu stützen. Sanft setzt er mich auf dem Bett ab und hilft mir aus meinen Stiefeln, bevor er seinen Mantel ablegt und ebenfalls seine Stiefel auszieht. Dann drückt er mich sanft in die Kissen und klettert neben mich. Das Bett war geräumig genug für uns beide und ich rolle mich in seinen Armen zusammen, während mir auch schon die Augen zufallen.

Was für ein Tag.

Das Gesetz der Hohen SeeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt