Amnesie

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"Das bedeutet also... er hat ALLES, was wir gemeinsam durchgemacht und erlebt haben vergessen, richtig?"

Der Doktor nickte bloß und schaute mich mitfühlend an. Ich kämpfte gegen die Tränen an, konnte mich aber noch zurück halten.

"Können Sie mir mehr zur Amnesie erzählen? Gibt es eine Möglichkeit, etwas zu tun, dass er seine Erinnerungen zurück erhält? Bitte, erzählen Sie mir alles, was mir helfen könnte!"

"Nun, eine Amnesie ist nicht gleich eine Amnesie. Es wird zwischen verschiedenen Arten unterschieden. Kakyoin leidet unter einer sogenannten retrograden Amnesie. Das bedeutet, dass er sich nicht mehr an Vergangenes erinnern kann. Nicht zwingend alles - meist betrifft es all das, was vor dem Vorfall, der die Amnesie ausgelöst hat, geschehen ist. Der Umfang kann dabei unterschiedlich sein, ob es sich also nun um ein paar Tage, Monate oder Jahre handelt. Bei ihm sind es, soweit wir rausfinden konnten, vermutlich 3-4 Monate. Die Ursachen, die bei ihm zutreffen könnten, wären zum Einen traumatisierende Erlebnisse, die er durch die Nahtod-Erfahrung oder durch die plötzlichen Verluste seiner Gefährten erlitten haben könnte. Zum Anderen könnte es auch durch Schädel-Hirn-Verletzungen oder Gehirnerschütterungen ausgelöst worden sein, die er beim Aufprall erlitten haben könnte, was tatsächlich gerade bei retrograden Amnesien wahrscheinlicher ist. Nun zum Thema Erinnerungen zurück erhalten... Prinzipiell ist es möglich. Allerdings gibt es auch keine Garantie darauf, ob und wie viele Erinnerungen letztendlich zurückkehren. Und selbst wenn einige Erinnerungen mit der Zeit zurückkommen, können manche Gedächtnislücken eventuell dauerhaft bestehen bleiben. Man kann es also nur versuchen und hoffen."

"Und wie genau? Was können wir tun? Was kann ICH tun?"

"Während seines Krankenhausaufenthaltes werden wir zumindest die körperlichen Ursachen versuchen zu behandeln. Zudem werden wir ihm für die Psyche Therapeuten zur Verfügung stellen, die auf Amnesie spezialisiert sind. Die wichtigste Hilfestellung ist es allerdings, die Amnesie über gewisse Reize zu brechen. Das bedeutet, ihm mit Erinnerungen auf die Sprünge zu helfen. Und dabei kommst du ins Spiel. Jeder kleinste Ansatz kann ihm helfen - seien es Besuche an den Schauplätzen, an denen wichtige Ereignisse mit eurer Gruppe stattgefunden haben, Wiedersehen mit den anderen Gruppenmitgliedern, Fotos aus der Zeit oder einfach nur Erzählungen darüber. Ob diese wirklich bei ihm etwas auslösen werden, bleibt offen. Aber das sind zumindest die Möglichkeiten, die wir haben. Das Nachstellen von Ereignissen kann auch helfen, wobei man hierbei vorsichtig sein muss, dass man dabei nicht aus Versehen irgendwelche Traumata ankratzt."

Die ganze Zeit über hörte ich ihm aufmerksam zu und saugte jede Information, die ich kriegen konnte, wie ein Schwamm auf. Ich würde alles tun um den Kakyoin, den ich kannte und liebte, zurück zu holen. Zur Not musste ich dafür sorgen, dass er sich erneut in mich verliebte. Entschlossen stand ich auf und wollte den Raum verlassen. Im Türrahmen blieb ich allerdings noch kurz stehen.

"Vielen Dank für die Hilfe. Ich zähle auf Sie, dass Sie alles für ihn geben."

Mit diesen Worten verließ ich das Krankenhaus und machte mich schnurstracks auf den Weg zurück nach Hause. Bei Kakyoin schaute ich nicht noch einmal vorbei, er war wahrscheinlich schon verstört genug davon, dass auf einmal jemand ihm 'Fremdes' ins Zimmer stürmte und ihn umarmte. Verwirrt schüttelte ich den Kopf, während ich die Haustür aufschloss und in mein Zimmer hastete. Einerseits war ich unbeschreiblich glücklich, dass er doch überlebt hatte. Mein einziger Wunsch hatte sich plötzlich doch erfüllt, obwohl bereits jede Hoffnung verschwunden war. Doch andererseits war ich erschüttert über die Nachricht seiner Amnesie. Alle unsere wunderbaren Erlebnisse, unser engeres Kennenlernen, unsere Beziehung - das alles existierte in seinem Kopf nicht mehr, ich war ein Niemand für ihn. Und so herrschte einfach nur noch ein Gefühlschaos in mir.

Während ich mich so durch alle Schubladen wühlte, um irgendwelche Erinnerungsstücke zu finden, war meine Mom hinter mir aufgetaucht.

"Jotaro? Was ist denn passiert, was hat Joseph gesagt? Du bist plötzlich so verstört losgestürmt..."

"Halt die Klappe, ich bin beschäftigt."

"Was suchst du denn, mein Schatz? Kann ich dir helfen?"

"Nein. Verschwinde, ich kann jetzt nicht."

"Okay, meld dich wenn du was brauchst!"

Lächelnd verließ sie wieder mein Zimmer. Mittlerweile hatte ich ein wenig Kram zusammengesammelt. Unser Gruppenfoto und ein paar weitere Bilder, die Karte, auf der Joseph unsere Reiseroute drauf gekritzelt hatte, ein Schmuckstück aus Indien als Souvenir,... Ich hoffte von ganzem Herzen, dass wenigstens irgendwas davon irgendeinen kleinen Teil seiner Erinnerungen zurück holen würde. Morgen würde ich erneut versuchen, Kakyoin einen Besuch abzustatten. Nur diesmal würde ich es ruhiger und vorsichtiger angehen als heute...

In Your Arms - Last Train Home [Jotakak] Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt