| 04 | heard you crying |

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Kapitel 4

Am nächsten Morgen schien es, als hätten wir den gestrigen Abend vollständig verdaut. Zumindest war es uns möglich wieder unsere normale Freundschaft fortzuführen, mit all ihren Witzen, Necke- und Zankereien. Es war wie immer, mit dem kleinen Detail, dass es nicht wie immer war.
Ich war aufmerksamer. Eigentlich war ich viel zu aufmerksam, wenn es darum ging, wie geschmeidigt sich Mats Armmuskeln bewegte, wenn er sich das Rührei auf den Teller schob oder wie pink eigentlich Marcels Lippen waren. Ich war viel zu Aufmerksam, wenn es darum ging, wie mein Puls in die Höhe schoss, wenn sie sprachen, wie sich eine Gänsehaut auf meinem ganzen Körper bildete und wie ihr Lachen mir ein Gefühl von Ruhe bescherte, das sich wie Nachhause kommen anfühlte.
Ich war viel zu Aufmerksam und ich wollte diese ganzen Erkenntnisse, die ich dadurch hatte, gar nicht haben, denn ich hatte nicht das Gefühl, als hätte ich mich verändert. Einzig meine Wahrnehmung hatte sich verändert, was bedeutete, dass ich mich in ihrer Gegenwart schon immer oder zumindest schon länger so gefühlt hatte und das machte mir Sorgen.
Ich versuchte den ganzen Tag schon den Gedanken aus dem Weg zu gehen, doch eingeschlossen mit ihnen auf einer Yacht bei 35 Grad war es die reinste Tortur, wenn es darum ging seine Gefühle im Griff zu haben.
„Du bist heute still", stellte Marcel fest, der neben mir auf der Liege saß. Ich wunderte mich, ob er wohl bemerkt hatte, dass ich sie immer wieder etwas weiter von ihm wegschob, mit der Hoffnung dass mein Kopf mit wachsendem Abstand klarer werden würde. Momentan hatte ich die magische Grenze, wenn meine Gedanken wieder Hand und Fuß hatten, noch nicht erreicht, sondern alles war ein einziges Chaos. Aber Hoffnung starb bekanntlich zuletzt.
„Ich bin nicht still", antwortete ich und richtete meinen Blick in den hellblauen Himmel, der so makellos war, als hätte jemand ihn ausgemalt. Zwar war er durch die Sonnenbrille gräulich gefärbt, aber das Sommergefühl erreichte mich trotzdem oder vielleicht genau deswegen.
„Doch, du hast heute nichts gesagt und auch nicht gezickt, als Mats wollte, dass du Frühstück machst! Das nenne ich still!"
„Mhm", nuschelte ich.
„Und das auch!"
Ich hörte ein Quietschen und durch einen Seitenblick bemerkte ich, dass sich Marcel auf seiner Liege aufgesetzt und seine Sonnenbrille abgenommen hatte. Sein Schatten bedeckte mich völlig und wurde immer größer, als er seine Beine über die Liege warf und sich in meine Richtung hinsetzte.
„Was war eigentlich gestern los? Vor dem Film meine ich!"
Ich biss mir auf die Unterlippe und blinzelte einige Male, als könnte ich den Moment weg blinzeln, was ich nebenbei erwähnt nicht konnte.
„Komm schon, jetzt lass uns nicht fünf Jahre zurückreisen, wo du mir kaum vertraust und mir nichts erzählst. Ich dachte das haben wir hinter uns!", stöhnte er.
„Es war nichts!", gab ich etwas trotzig von mir.
„Wegen nichts weint man nicht!"
„Wer weint?", Mats betrat das Geschehen, mit einem Glas Wasser in der linken Hand und der stylischen Sonnenbrille auf der Nase. Wenn mir ein bisschen mehr nach witzeln zumute wäre, würde ich uns die Sonnenbrillen Gang nennen.
„Lukasz!", antwortete Marcel völlig hemmungslos darüber, dass ich vielleicht nicht wollte, dass auch Mats vom gestrigen Zwischenfall wusste. Denn Mats war auf eine andere Art und Weise hartnäckig als Marcel. Während Marcel einen ständig mit Blicken kontrollierte, war Mats ein eher direkterer Charakter, der dir praktisch keine Sekunde gab, um sich abzuschotten. Als hatte man dann einen starrenden Stalker aka Marcel und einen hartnäckigen Fragensteller aka Mats um sich, die einen praktisch 24/7 verfolgten.
„Warum?", fragte Mats besorgt. Marcel rollte mit den Augen: „Ja das versuche ich gerade rauszufinden, Schlaukopf!"
Mein Blick schwenkte zwischen den beiden hin und her und ich wünschte mir, dass sie jetzt eine sinnlose Zankerei begannen, damit ich die Chance hatte aus dem Geschehen zu entfliehen. Aber scheinbar waren Marcel und Mats schlauer, als ich gehofft hatte, denn ihre beiden Augenpaare lagen recht schnell wieder prüfend auf mir.
„Ich will nicht drüber reden!", ließ ich sie wissen.
„Das ist keine Methode!", wies mich Mats zurecht. Empört sah ich zu ihm.
„Ah, aber als du gestern für uns beschlossen hast, dass die kommende Saison kein Thema auf dieser Yacht ist, da war es okay ein Thema auszublenden oder wie?", zickte ich genervt und wusste, dass ich meinen 35 Jahren gerade nicht nachkam, aber wenn es um Selbstschutz ging, dann wurde ich rasch zickig und da war es auch völlig egal, ob ich gerade 16, 25 oder 35 war und ich war mir ziemlich sicher, dass ich auch mit 45 und 80 noch genauso reagieren würde, um meine Gefühle nicht zu offenbaren.
Ich setzte mich auf der Liege auf, nahm meine Sonnenbrille aber bewusst nicht ab, da ich die dünne Tränenschicht spürte, die sich über meine Augen gelegt hatte. Verdammt, ich war in den letzten Jahren wirklich ein Softie geworden.
Ich bemerkte, dass ich mit meinen Worten Mats wohl die Sprache verschlagen hatte, denn er sah lediglich zu mir herunter. Dann öffnete er doch seine Lippen, denn Mats schwieg selten lange.
„Aber anders als bei dir wissen wir, was mein Problem ist und wir wissen, dass wir dagegen nichts tun können!", stellte er klar. Ich schnaubte und drückte mich von der Liege hoch, sodass ich dicht bei Mats stand, zu dicht, als dass ich nicht das Kribbeln in meinem Bauch spürte, was ich ungern als so angenehm betiteln würde, wie es war.
„Tja...", ich hob warnend meinen Finger und presste meine Lippen zusammen: „Gegen mein Problem kann man auch nichts machen!"
Eigentlich war für mich das Gespräch mit diesem Satz beendet und ich wollte einfach an Mats vorbeistolzieren, als dieser auf einmal seine Hand um mein Handgelenk schloss und mich zurückhielt.
„Lass mich los!", zischte ich laut und war selbst überrascht von dem scharfen Unterton.
„Nein!", antwortete Mats wenig eingeschüchtert und hielt seinen Blick fest auf mir, zumindest vermutete ich das. Ich wollte seinen Blick eigentlich standhalten, aber Mats hatte eine Möglichkeit gefunden, trotz zwei Gläsern Sonnenbrille seine Augen in mich zu bohren und ich hatte gerade das Gefühl, als würde er mich wie ein offenes Buch lesen, mit einer Leichtigkeit, die niemandem erlaubt sein sollte. Also wandte ich meinen Blick ab und sah zu Marcel herüber, def geknickt dasaß und mit der Brille in seinen Händen spielte.
„Sag's doch einfach. Wenn du's sagst, dann müssen wir darüber nicht weiter reden. Aber sag wenigstens, was es ist!", bat er mich. Ich lachte auf.
Wenn ich nur wüsste, was genau es war
„Ich möchte nicht und jetzt hört auf euch wie meine Mutter aufzuführen, denn die habe ich ab nächster Saison wieder ständig um mich!"
„Ah perfekt, mit ihr wirst du ja auf jeden Fall über Gefühle sprechen!", kommentierte Mats meine Aussage mit einem viel zu großen Hauch von Ironie. Ich zog meine Augen zusammen.
„Wie soll ich das verstehen?", knurrte ich wütend und versuchte mich wieder aus seinem Griff zu entreißen, aber Mats war zu stark.
„Naja, ist ja offensichtlich, dass deine Eltern dir nie beigebracht haben über Gefühle zu sprechen!", ließ mich Mats wissen und zog dabei seine Brille von der Nase. Ich hatte das Gefühl, als hätte er damit eine Barrikade zwischen uns zum Einsturz gebracht und fühlte mich gleich verletzlicher.
„Ah, und das schließt du woraus?", wollte ich provozierend wissen.
„Mats!", funkte Marcel dazwischen, aber weder Mats noch ich interessierten uns für seinen Versuch die Situation zu retten, bevor sie völlig aus den Fugen geriet.
„Naja, das schließe ich daraus, wie du dich benommen hast, als du 2010 nach Dortmund gekommen bist und das schließe ich daraus, dass du nach elf Jahren immer noch nicht in der Lage bist mit uns darüber zu sprechen, was dir auf dem Herzen liegt!"
„Ich schwöre dir, Mats. Pass auf, was du über meine Familie sagst. Das ist dünnes Eis auf dem du dich bewegst!", warnte ich ihn und hob erneut meinen Finger.
„Warum sollte ich aufpassen, wenn ich die Wahrheit sage?"
„Woher willst du denn wissen, was die Wahrheit ist? Du kennst meine Familie nicht einmal!"
„Ich kenne aber dich!"
Ich biss meine Zähne aufeinander und zog meine Augen zu schmalen Spalten zusammen, wich nicht einmal zurück, als Mats einen Schritt auf mich zumachte, denn meine Familie zu schützen war wichtiger, als meine Gefühle zu verbarrikadieren.
„Und willst du noch eine Wahrheit hören?", fragte Mats.
Nein, schrie mein Herz, weil Mats der Wahrheit vielleicht doch näher kam, als ich eigentlich wollte.
„Hau raus, du Genie!", keifte ich.
„Ich weiß sogar, warum du nach Polen zurückkehren möchtest!"
„Ich hab Heimweh, das ist jetzt nicht sonderlich schwer zu entziffern!", lachte ich.
„Nein, du hast Angst. Du hast Angst, weil deine Freunde hier die anfangen zu viel zu bedeuten und weil du merkst, dass wir dich viel zu gut kennen, als dir lieb ist.
Also ziehst du lieber nach Polen, in das Kaff, wo Gefühle nicht ausgesprochen werden und Emotionen keinen Namen haben!"
Es war wie ein Stich, wie ein Messer, dass sich schmerzhaft langsam in meine Brust bohrte, während jegliche Luft aus meinen Lungen wich.
„Schei...."
„Mats, das reicht jetzt!", rief Marcel, der zwischenzeitlich aufgestanden war. Er zog Mats und mich auseinander und ich stolperte über einen der mvielen Badelatschen, während ich zu Mats sah. Eigentlich wollte ich noch irgendetwas sagen, wusste aber nicht was und da Mats noch immer den Eindruck machte, als würde er die ganze Zeit in meiner Gefühlswelt lesen, entschloss ich mich dazu das Weite zu suchen, zumindest sofern das möglich war.
Ich huschte ins Innere der Yacht, runter direkt in mein Zimmer und schloss mich in diesem ein, damit ja keiner die Möglichkeit hatte mir Gesellschaft zu leisen, denn gerade jetzt wollte ich mehr alleine sein, als je. Vielleicht wollte ich es nicht, aber ich musste.

Ich presste meine Hände an meine Schläfen, während ich vergeblich versuchte die Tränen in mir zu halten, denn sie liefen einfach hemmungslos über meine Wangen. Ich hasste alles an der Situation von gerade.
Ich hasste alle Emotionen, alle Gefühle in ihr.
Ich hasste den Schmerz, weil ich in Marcels und Mats Augen lesen konnte, dass meine Reaktion sie verletzte.
Ich hasste die Angst, weil Mats mich lesen konnte und noch mehr als diese Angst hasste ich die Angst, dass Mats mich auch noch richtig lesen konnte und mich mit diesen verborgenen Wahrheiten konfrontierte von denen ich nicht einmal wusste.
Ich hasste es, dass dieser Urlaub drohte zu einem absoluten Desaster zu werden, noch bevor er richtig begonnen hatte.
„Lukasz!", ich vernahm ein dumpfes Klopfen und Marcels Stimme von Außen und zuckte im ersten Moment zusammen. Angemessen wäre es etwas zu sagen, doch wusste ich um meine weinerliche Stimme, die mich verraten und Mats und Marcel einen weiteren Grund geben würde, mich ständig im Auge zu haben. Also wählte ich die andere Methode: Schweigen.
Marcel klopfte noch einige Male und redete auf mich ein, dass ich doch bitte die Tür öffnen solle, er drückte die Türklinke jedes Mal verzweifelt hinunter, doch ich tat einfach so, als würde ich ihn nicht hören, selbst wenn ich wusste, dass Marcel sich im Klaren darüber war, dass ich ihn gerade bewusst ignorierte.
Es war trotzig, aber gerade war sowieso alles beschissen.
Marcel verließ meine Tür irgendwann und ich ließ mich verzweifelt auf die weiche Matratze sinken, vergrub mein Gesicht im weißen Laken und schob meinen Körper unter die Decke. Mir war eisig kalt, obwohl draußen Temperaturen von über 30 Grad herrschten. Mein Körper hatte die Angewohnheit, dass sich meine Gefühlswelt immer in irgendwelchen Körperreaktionen wie Kälteempfinden oder so widerspiegelte. Ich hasste es, weil diese Kälte so unfassbar aggressiv war und ich wusste, dass auch der heisseste Sommertag sie nicht verschwinden lassen würde. Denn die Kälte kam von innen, sie strahlte aus meinem Herzen, entstand durch Einsamkeit. Eigentlich hatte ich mich ewig nicht mehr einsam gefühlt. Ewig und einen Tag. In meiner Jungend war ich ständig einsam gewesen.
Ich war der schüchterne Junge, in der coolen Truppe, der aber eigentlich nur dabeistand, weil er gut Fußballspielen konnte und weil die Mädchen und Jungs das scheinbar als Grund genug sahen mich auf Partys einzuladen. Aber so wirklich dazu gehörte ich nie und so wirklich enge Freunde hatte ich auch nie gemacht, denn dazu war ich zu schüchtern. Meine Familie war davon völlig ahnungslos, weshalb ich auf Mats Worte so reagiert hatte. Meine Familie war sowas von anders, als Mats sie vermutete. Meine Familie war eigentlich das genaue Gegenteil von mir. Sie sprachen eben über Gefühle.
Sie waren eben offen.
Sie waren eben herzlich.
Sie waren eben das genaue Gegenteil von mir.
Und ich konnte meine Gefühle und Emotionen benennen. Ich wusste, was ich gerade fühlte, aber ich wollte es mir niemandem teilen. Und dafür konnte niemand etwas für. Niemand war schuld, dass ich war, wie ich war. Ich war Gottes Versuch bei einer tollen Familie einen genauso tollen Menschen zu kreieren und manchmal gingen Versuche nun einmal schief. Dafür konnte meine Familie aber nichts. Natürlich viel der Apfel nicht weit vom Stamm, aber wie sagte man so schön: Ausnahmen bestätigen die Regel. Ich bin die Ausnahme, die irgendwie so völlig anders von Rest der Familie ist. Der weggerollte Apfel.
„Verdammt Lukasz, ich hab gerade scheiße gebaut und bin zu weit gegangen. Tut mir leid, komm schon, das war Bullshit was ich gesagt habe!", erschien nun Mats vor meiner Tür und vielleicht hätten seine Worte irgendeine Wirkung auf mich gehabt, wenn seine letzte Wahrheit von vorhin wirklich Bullshit wäre. Aber das war sie nicht. Sie war beschissenerweise wahr.
Mats und Marcel waren mir viel zu nah, als dass ich damit umgehen konnte und bevor es noch kritischer wurde, rannte ich lieber weg.
Ich war Lukasz, ich hatte es schon immer so getan.

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Ich hab das Kapitel nicht nochmal Korrektur gelesen, also entschuldigt die Fehler falls da welche sind. Ich hole das am Wochenende oder so nach, aber ich poste das Kapitel zwischen einem vollgepackten Tag Workout, Einkaufen, Schule, Fahrschule und den Bedürfnissen meines Hundes, also habt bitte etwa Nachsicht mit mir
Nichtsdestotrotz hoffe ich, dass euch das Kapitel natürlich gefällt
❤️

HERE'S YOU'RE PERFECT | hummels x piszczek x schmelzer ✔︎Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt