•III•

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• D E R E K •

Nervös gele ich meine Haare zurück und fummle an dem Ärmel von meinem Pullover. In 20 Minuten fahre ich zu Jay und hole ihn ab. Wir wollen zusammen einen Spaziergang über die High Line in der Stadt machen und uns dort trotz der eisigen Temperaturen ein Eis holen. Ich liebe diesen Ort einfach.
Ein Park zwischen den Dächern von New York. Natürlich nicht bei den größten Wolkenkratzern, sondern etwas außerhalb bei den relativ normalen Häusern. An sich ist die Gegend dort nicht wirklich schön, aber der Park macht es zu etwas Besonderem.
Ursprünglich war das ganze eine Zugstrecke für den Güterverkehr, wurde dann aber umgebaut.

Dadurch, dass es kurz vor Weihnachten ist, ist dort alles mit Lichterketten dekoriert und der Schnee bedeckt den Boden.

"DEREK!"
Ich zucke zusammen. Schnell schnappe ich mir mein Geldbeutel und die Haustürschlüssen und gehe dann aus meinem Zimmer direkt ins Wohnzimmer. Als ich es betrete, kommt mir der Geruch von Alkohol entgegen. Das braucht einen nicht zu wundern, wenn man bedenkt, wie viele leere Flaschen sich hier nach einem Tag wieder angesammelt haben.
"Ja Vater?", meine Stimme ist leise, als ich mit genügend Abstand zu ihm stehen bleibe.
"Bier", ist das einzige, was er sagt. Wie immer. Er sagt immer nur ein Wort.

Seit dem Tod von Mum ist er ein komplett anderer Mensch geworden.
Er hatte mal einen gut angesehen Job. Diesen hat er als erstes verloren, dadurch, dass er nicht mehr zur Arbeit gegangen ist. Ich würde nichtmal sagen, dass er wirklich um Mum getrauert hat. Er ist eher in Selbstmitleid versunken, da nun niemand mehr da ist, der ihm nach der Arbeit Essen kocht. Damals mit 14 dachte ich noch, dass der Alkohol seine Art ist, um die Trauer zu bewältigen, doch heute mit 17 weiß ich, dass es nur seine Art ist, nicht komplett in Selbstmitleid zu versinken.
Wie auch immer, nach dem verlorenen Job, folgte der Umzug in die gefühlt hässlichste und widerlichste Bude der ganzen Stadt. Ein Bad, Wohnzimmer, Küche und ein Schlafzimmer.
Ich kann mich glücklich schätzen, dass Schlafzimmer bekommen zu haben, während mein Vater von Anfang an seinen Hinter nicht mehr von dem Sofa hochbekommen hat. Mich wundert es, dass er noch nicht mit ihm verwachsen ist.

Er gibt mir nach wie vor die Schuld für das, was damals passiert ist. Erst waren es nur Beleidigungen, aber später folgten Tritte und Schläge. Dafür reichte es, wenn nur das Bier nicht kalt genug war.

Ich reiche ihm das Bier und er reißt es mir förmlich aus der Hand.
"Ich bin jetzt unterwegs", teile ich ihm mit, aber wie erwartet winkt er nur ab.
Es tut weh zu wissen, dass man einer Person, für die man das wichtigste der Welt sein sollte, egal ist. Mittlerweile sollte ich mich eigentlich daran gewöhnt haben, aber ich glaube das tut man nie. Ich hätte so gerne jemanden, mit dem ich über all das reden kann, aber ich möchte Jay schützen. Er ist zu jung, zu unschuldig. Ich will nicht, dass er erfährt, wie es um mich und meinem Vater steht.

Mit einer dicken Jacke, sowie Schal und Mütze verlasse ich schließlich die Wohnung und fahre mit dem Bus zu Jayden. Von dort aus werden wir mit der Subway fahren müssen, um zu dem Park zu gelangen. Leider ist das Subwaynetz in New York nicht so gut und man muss oftmals trotzdem noch ein Stück laufen, aber Bewegung tut gut.

Jay wartet bereits schon vor der Haustür auf mich. Er grinst schon von weitem, als er mich aus dem Bus aussteigen sieht und ich tue es ihm gleich. Wenn er lächelt, muss man automatisch auch lächeln. Sein Körper ist wie meiner dick eingepackt und ich muss sagen, dass es wahnsinnig süß aussieht.
"Hallo mein Bärchen", begrüße ich ihn und schlinge dann die arme um seinen Körper. Trotz, dass er erst 14 ist, ist er nicht allzu viel kleiner als ich und ich bin schon relativ groß. Aber generell ist er für sein Alter viel reifer.
"Ich habe dich vermisst", murmelt er gegen meine Jacke. "Ich dich auch", flüstere ich.

Bei ihm kann ich ich selbst sein. Bei ihm fühle ich mich sicher und muss mich nicht verstellen. Ich kann die Liebe, die ich ihm gegenüber empfinde zulassen.

Anhand dessen, wie zappelig Jay ist, merke ich, wie nervös er ist. Doch mir ergeht es nicht anders. Immer, wenn ein Treffen mit ihm bevorsteht werde ich nervös.
"Ich freue mich so, dass du Weihnachten wieder bei uns verbringen kannst", strahlt er und lehnt sich gegen mich. Mittlerweile sitzen wir in der Subway. Hier drin ist es immerhin schön warm.

Ich war schon letztes Jahr an Weihnachten bei ihm. Es war abgesehen von den Jahren, an denen meine Mutter noch da war, das schönste Fest. Seine Familie hat mich liebevoll empfangen, auch wenn wir damals nur normale Freunde waren. Doch wahrscheinlich, haben sie damals schon geahnt, dass sich aus uns beiden mehr entwickeln wird. Ich muss auch sagen, dass der Übergang zwischen Freundschaft zu Beziehung nahtlos war. Irgendwann wurde aus einer kurzen Umarmung eine innige. Bei einer innigen Umarmung folgte irgendwann der erste Kuss.

Es dauert etwa eine halbe Stunde bis wir an unserem Ziel angekommen sind, aber dafür wissen wir beide, dass es sich lohnt. Wir haben Glück und es ist nicht allzu viel los. Jays Hand fühlt sich warm in meiner an, während wir schon zu dem Eisstand schlendern. Natürlich gebe ich ihm seines aus. So macht man das als Gentleman.

"Es ist wirklich schön hier", meint Jayden, als wir uns ein paar Minuten später mit unserem Eis auf eine Bank fallen lassen. Dadurch, dass diese bedeckt ist, ist sie nicht nass und die Sitzfläche aus Holz ermöglicht es und, gemütlich zu sitzen, ohne das Gefühl, dass einem der Hintern abfriert.

"Derek, wo siehst uns in zehn Jahren?"
Die Frage ist für einen 14 Jährigen nicht typisch, aber daran merkt man wieder, wie viel weiter er schon ist.
"Hm...ich hoffe, wir haben ein gemeinsames Haus mit einem schönen großen Garten. Aber eigentlich ist das unwichtig. Ich will nur mit dir zusammen sein und das wir gesund sind", antworte ich ihm und meine es voll und ganz ehrlich.
"Das klingt gut. Aber ich will einen Rottweiler", Jayden grinst mich an. Vor ein paar Monaten hat er seine Liebe zu Rottweilern entdeckt und ich muss sagen, dass sie es mir seitdem auch wirklich angetan haben.
"Okay, den bekommst du", lache ich und steigt ein.

Wir sitzen noch viel zu lange in der Kälte und tauschen hier und da ein paar Zärtlichkeiten aus.

Ich bin ihm so dankbar, dass er mich meinen Vater vergessen lässt, solange ich bei ihm bin.

incandescencing

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