•VI•

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• D E R E K •

Es ist kein tolles Gefühl, wenn du denkst, dass du alles, das du dir selbst erarbeitet hast oder besitzt gar nicht verdient hast.

Und seien es so Dinge, die viele als selbstverständlich ansehen. Essen, einen Schlafplatz, Freunde, eine Familie...

Seit dem Tod meiner Mum frage ich mich ständig, ob ich die ganzen Dinge überhaupt verdient habe. Sie hat mich groß gezogen und als Dank habe ich sie unweigerlich in den Tod geschickt, nur weil ich das Essen nicht in mir behalten konnte und ihr Auto nicht in Mitleidenschaft ziehen wollte.

Wenn es wirklich so etwas wie den Himmel geben sollte, dann wird sie wohl nicht stolz auf mich sein.

Manchmal träume ich von ihr. Sie schreit mich an, sagt mir, dass es meine Schuld ist und dass ich es zu verantworten habe, wie Dad geworden ist. Sie sagt mir, dass ich der größte Fehler ihres gesamten Lebens war und das ich nur einen Platz in der Hölle verdient habe.

Ich kann sie verstehen. Sie hat vermutlich recht.

Ich werfe einen Blick in den Spiegel und stütze meine Hände auf dem Rand des Waschbeckens ab. Rote, geschwollene, traurige Augen blicken mir entgegen und brennen sich in meine eigene Seele.
Ich kann den Blick erst abwenden, als ich das Geräusch der sich schließenden Haustüre höre.

"Schatz?", ertönt es von unten.
Eilig wische ich mir über die Augen und hoffe so die letzten Tränenreste entfernen zu können, auch wenn mich andere Dinge definitiv verraten werden.
Kurz überlege ich noch, mich im Bad einzuschließen, doch da steht Jayden schon in der Tür.

Er lässt seinen Rucksack auf den Boden sinken und tritt dann in den Raum.
"Was ist passiert?", fragt er besorgt und kommt auf mich zu. "Hast du geweint?"
Er legt die Hände an meine Wangen und versucht mein Gesicht zu sich zu drehen, doch ich wende mich ab und er lässt die Hände wieder sinken.
"Rede mit mir! Was ist passiert?" Er greift diesmal nach meiner Hand und ich lasse es zu. Seine Stimme trieft vor Sorge, aber ich kann es ihm nicht sagen. Ich muss stark wirken, nicht schwach.

„Du bist so ein Schwächling!"
Diesen Satz hat mir mein Vater oft genug ins Ohr gebrüllt. Und er hat recht. Weinen ist ein Zeichen der Schwäche. Wie tief bin ich gesunken?

"Nein. Es ist alles gut", bringe ich schließlich hervor und versuche mich an einem Lächeln. "Ich hatte nur was im Auge. Du kennst das ja. Manchmal bekommt man es einfach nicht raus", ich lache kurz, aber sehe an seinem Blick, dass er mir absolut nicht glaubt, was ich ihm nicht verübeln kann. Meine Schauspielkünste sind unterirdisch. Daran muss ich wohl noch arbeiten.

Er lässt meine Hand los und tritt einen Schritt zurück.
"Weißt du, in einer Beziehung redet man miteinander. Auch bei Problemen. Aber ich kann dir nicht helfen, wenn du dich immer wieder wie ein Eisblock verhältst und Dinge leugnest, die eigentlich offensichtlich sind. Jetzt sag schon, was ist los?".
"Es ist wirklich nichts", erwidere ich und wende mich wieder ab. Er atmet genervt aus.
"Vertraust du mir nicht?" Seine Stimme klingt ernst und sein Blick ist es auch, obwohl ich in seinen Augen deutlich sehe, dass er verletzt ist.
"Natürlich vertraue ich dir, aber es ist wirklich nicht wichtig. Es ist alles gut", antworte ich ihm und greife nach seiner Hand, doch diesmal entzieht er sie mir.
"Hör auf mich anzulügen Derek. Ich bin dein Freund, falls du das vergessen haben solltest. Und als Partner sollte man ehrlich zu dem Anderen sein"
"Ich hab das nicht vergessen, aber ich möchte gerade einfach nicht reden", antworte ich und so langsam bin ich genervt. Ich weiß, er meint es nur gut, aber ich möchte einfach nicht darüber sprechen.
"Du meinst, du möchtest gerade nicht mit mir reden", meint er und verschränkt die Arme vor der Brust.
"Das habe ich nie behauptet. Jetzt dreh dir die Wörter nicht so, wie sie dir am besten passen", zische ich und merke, wie die Traurigkeit langsam zu Wut umspringt. Er gibt einen abschätzigen Laut von sich.
"War ja klar, dass du jetzt wieder wütend wirst, nur weil ich mir Sorgen um dich mache und dir helfen möchte."
"Du hilfst mir aber nicht, indem du mich dazu zwingst über etwas zu reden, worüber ich nicht reden möchte", ich werde lauter und erst dann fällt mir auf, was ich gerade gesagt habe. Verdammt. Ich schließe ertappt die Augen, bevor ich sie wieder öffne.
"Wusste ich es doch. Immerhin gibst du jetzt endlich mal zu, dass etwas nicht in Ordnung ist", sagt er und zieht die Augenbrauen nach oben.

"Warte mal, das war dein Ziel oder? Mich so auf die Palme zu bringen, damit ich es zugebe". Die Wut steigt weiter.
"Anders kriegt man ja nichts aus dir raus. Erst wenn du wütend wirst und nicht mehr drüber nachdenkst, was du eigentlich tust", antwortet er und will sich dann abwenden, um zu gehen, doch es ist als würde sich in mir ein Schalter umlegen. Plötzlich spüre ich nur noch, wie meine Hand auf seiner Wange landet und sein Kopf zur Seite fliegt. Sehen tue ich dabei nichts, erst wieder, als er sich mit schockiertem Blick die Hand an die Stelle legt und einen Schritt vor mir zurückweicht.

Fuck.

Panik breitet sich in mir aus, als ich nach und nach wieder zu mir finde. Jay steht mit gesenktem Kopf vor mir, seine Hand noch immer an der Stelle, die sicherlich mittlerweile ordentlich gerötet ist. Es ist still.

Wäre ich ein guter Mensch und Partner, würde ich mich entschuldigen. Ich würde vor ihm auf die Knie gehen und ihn um Verzeihung anflehen. Ich würde ihm sagen, wie sehr ich ihn liebe und dass ich mich bessern werde. Dass er alles für mich ist. Und was mache ich?

Ich stürme an ihm vorbei, lasse ihn einfach stehen und verlasse das Haus.

Es gibt nur eine Person, die wirklich weiß, wie es in mir aussieht.

Auf dem Weg zu meiner Schwester verebbt die Wut langsam und macht der Traurigkeit wieder platz.
So kommt es, dass ich einer halben Stunde später wieder total verheult vor ihr stehe.
Sie nimmt mich in den Arm, führt mich zu ihrem Sofa und bringt mir eine heiße Schokolade mit kleinen Marshmallows. Genau, wie ich es liebe.

"Ich kann nicht mehr, Lexi. Es fühlt sich an, als würden alle Fortschritte machen und sich von mir wegbewegen, während ich an Ort und Stelle bleibe und mich im Kreis drehe. Ich fühle mich, als wäre ich eine Hülle, die durch die Gegend marschiert und das zu sein versucht, wie die Leute sie sehen wollen, aber eigentlich unterdrücke ich meine Gefühle. Nichtmal vor Jay kann ich ehrlich sein. Ich liebe ihn und trotzdem kann ich es nicht. Ich hab ihn geschlagen, Lexi. Und ich bin weggerannt, anstatt ihn um Verzeihung zu bitten und mich um ihn zu kümmern. Ich bin ein Monster. Mehr bin ich nicht"

Ich ende in einem Heulkrampf. Zu viele Erinnerungen spielen sich in meinem Kopf ab. Erinnerungen, die ich einfach gerne für immer verbannen würde.

"Du Nichtsnutz! Deine Mutter und ich hätten dich umbringen sollen, als wir noch die Chance dazu hatten! Du wirst niemals jemanden finden, der dich liebt, weil man so eine Kreatur wie dich nicht lieben kann! Du ekelst mich an!"

"Du bist zwar noch zu jung Derek, aber manchmal sind die Pillen hier das Einzige, was mir hilft, um die Realität für eine gewisse Zeit zu vergessen", erklärte mir Noah, meine erste große Liebe, als ich ihn darauf ansprach, was er da immer für ein komisches Zeug nahm.

"Aber Drogen sind illegal und ungesund, Noah", flüstere ich schockiert, als ich sah, wie er sich eine der Pillen in den Mund führte und anschließend schluckte. Es war nicht das Einzige, das er regelmäßig konsumierte.

Er lächelte leicht. "Ich weiß, aber für mich sind sie eine große Hilfe", antwortete er, bevor er mich an sich zog und wir in einem Kuss versanken.

Ich hätte damals schon wissen sollen, dass die ganzen Dinge, die er konsumierte, sein Leben viel zu früh beenden würden.

Die ganzen Erinnerungen überrollen mich, während Lexi mich im Arm hält und mir beruhigend über den Rücken streicht. Irgendwann legen wir uns hin und sie legt eine flauschige Decke über uns, bevor sie dazu übergeht sich an meine Seite zu kuscheln und mir beruhigend über den Bauch zu streichen. Früher hat Mum das immer getan. Aus irgendeinem Grund hat das seit kleinauf eine sehr beruhigende Wirkung auf mich.

Ich spüre, wie ich immer müder werde und meine Augen schließlich zufallen. Doch selbst im Traum lassen mich meine Erinnerungen nicht in Frieden. Für viele ist der Schlaf eine Erlösung, doch manchmal wirkt es eher wie eine Strafe.

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