13 - Rosie

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Freitag, 09.10.2020

In diesem Moment geht mir alles durch den Kopf, aber gleichzeitig auch nichts. Gerade als ich geglaubt habe, mich mit meiner Situation zurechtgefunden zu haben, kommt etwas Neues hinzu und macht all meine Bemühungen zunichte. Eigentlich sollte es mich nicht schockieren, dass Jordan Geheimnisse vor mir hat, im Endeffekt habe ich bis zum Schluss nicht daran geglaubt, dass ich je alles über ihn erfahren werde. Aber das, was er mir jetzt eröffnet hat, nimmt mir jegliche Hoffnung. Und nicht nur das. Unweigerlich frage ich mich, wie ich ihm von nun an vertrauen soll. Wie kann ich sicher sein, dass er nicht noch viel mehr vor mir verbirgt?

Mit einem Mal ist mein Kopf voller wirrer Gedanken. Sie haben keinen Anfang, aber auch kein Ende. Ob ich glücklich sein soll? Traurig? Erleichtert? Sauer? Ich weiß nicht, was ich fühlen soll.

„Setz dich hin", höre ich Jordans Stimme gedämpft zu mir durchdringen. Mein Körper fühlt sich nicht wie mein eigener an, als ich kraftlos zulasse, wie er mich zu seinem Bett stützt, weil ich mich nicht von mir aus bewege.

Schlaff lasse ich mich auf das weiche Blau sinken. Mein Blick schweift umher, um meine Umgebung nochmal zu betrachten, falls sich irgendetwas verändert hat. Vielleicht ist es nur mein vernebelter Verstand, der mir einen Streich spielen möchte und was ich gesehen habe, ist nur eine Illusion gewesen. Wie erwartet, bleibt die Einrichtung jedoch so wie sie ist, egal wie oft ich blinzle und mir die Augen reibe.

Ich bin nicht darüber enttäuscht, dass Jordan mein vermeintlich bester Freund ist, immerhin ist er im Vergleich zu Steven das geringere Übel. Viel schlimmer ist, dass er es mir verschwiegen hat, obwohl er schon so lange in meinem Leben eine Rolle spielt. All die Situationen, in denen wir über Blue Rose gesprochen haben, sind nur ein Schauspiel für ihn gewesen. Er hat mitangesehen, wie Steven sich seine Identität geklaut hat und sich erst jetzt entschieden etwas zu sagen. Nachdem ich mich zum Affen gemacht habe. Nachdem ich mich damit abgefunden habe, dass es Steven ist. Nachdem ich mich mit dem Gedanken angefreundet habe, dass Jordan nicht Blue Rose sein kann.

Nur vage bekomme ich mit, wie mein vermeintlich bester Freund sich neben mich setzt, diesmal mit etwas Abstand zwischen uns. Er hält weder meine Hand, noch sieht er mich an. Auch wenn ich dankbar dafür bin, dass er mir diesen Freiraum gibt, verlangt mein Körper dennoch nach ihm. Mein Kopf hingegen trägt mir auf, der Anziehung nicht nachzugeben.

Eine Weile vergeht, in der wir schweigend nebeneinander sitzen und unseren eigenen Gedanken nachgehen. Meine werden schon bald so laut, dass ich mit einer neuen Frage herausplatze, da er mir die andere anscheinend nicht beantworten will. Möglicherweise muss ich kleinschrittig vorgehen.

Ich nehme all meine Geduld zusammen, indem ich tief durchatme, bevor ich spreche. „Warum hast du mir nichts gesagt?", frage ich leise und fixiere dabei einen unsichtbaren Punkt in der Luft.

Er nimmt sich Zeit für seine Antwort, als müsste er abwägen, ob er die Wahrheit oder eine Lüge erzählen soll. „Es gibt so viel, was du nicht weißt", entgegnet er schließlich schwach. Diese mürbe Seite von Jordan ist eine, die ich bisher nicht gekannt habe. Allerdings kann ich wiederum gar nicht sagen, dass ich je einen Einblick in seinen wahren Charakter bekommen habe. Alles, was ich über ihn weiß, könnte genauso gut eine Lüge gewesen sein.

„Warum hast du mir nichts gesagt?", wiederhole ich mit Nachdruck und sehe ihn diesmal abwartend an. Auch er wendet sich mir zu und begegnet den Tränen in meinen Augen mit einem todtraurigen Blick. Mir zerreißt es das Herz ihn so zu sehen, aber ich darf nicht schwach werden. „Ich habe dir von Blue Roe erzählt, du hast nach ihm gefragt und wolltest ihn sogar verhören. Du hast mich ihn von deinem Handy aus anrufen lassen, hast dann meine Nachricht auf der Mailbox abgehört und trotzdem so getan, als wäre nichts passiert. Du hast von den Blumen vor der Tür erfahren, bist sogar zum Treffen gekommen, in dem Wissen, dass er nicht der echte Blue Rose ist und hast mich danach guten Gewissens nach Hause gefahren. Du hast mich tagelang in dem Glauben gelassen, dass es Steven ist. Plötzlich rückst du mit der Wahrheit raus? Sagst mir dann auch noch, dass es vieles gibt, was ich noch nicht weiß? Wann willst du mir von diesen Dingen erzählen? Muss ich weitere elf Jahre darauf warten, dass du dich mir öffnest und endlich ehrlich zu mir bist?" Atemlos rattere ich eine wirre Zusammenfassung meiner Überforderung herunter. Heiße Tränen fließen mir unkontrolliert die Wangen hinunter und ersticken meine Worte im Keim. Der Tränenschleier versperrt mir die Sicht auf den mir plötzlich fremden Mann, doch ich erkenne den Schmerz in seinem Blick, als er gequält das Gesicht verzieht. „Warum gerade jetzt?", stelle ich ihm die Frage, die ich auch Steven schon gestellt habe. Dass ich nicht nur von Jordan, sondern auch von ihm nach Strich und Faden belogen wurde, ist entmutigend. Das lässt mich darüber nachdenken, ob es überhaupt noch jemanden gibt, der mich nicht verarscht hat.

Blue Rose - Band 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt