19 - Adoptivfamilie

53 8 2
                                    

Sonntag, 11.10.2020

Nachdem meine Adoptivbrüder und ich so böse auseinander gegangen sind, habe ich mir wenig Gedanken darüber gemacht, wie unsere nächste Begegnung aussehen könnte. Ich habe größere Sorgen gehabt, als meine belastete Beziehung zu den beiden. Doch jetzt, wo ich mir die Zeit nehme, um darüber nachzudenken, realisiere ich, wie ich wirklich zu ihnen stehe und was für ein furchtbarer Mensch ich eigentlich für diesen Gedankengang bin. Matt und seine Familie sind an meinen dunkelsten Tagen für mich dagewesen. Auch wenn sie meine Mama nie haben ersetzen können, bin ich ihnen sehr viel schuldig. Nach all dem, was sie für mich gewesen sind und was sie für mich getan haben, ist es unfair sie zu meiden. Wie kann ich enttäuscht sein, dass sie mich nicht als ihre Familie ansehen, wenn ich es selbst auch nicht tue? Was ist überhaupt der Grund für unseren Streit gewesen? Chris ist Pam fremdgegangen und Matt in mich verliebt. Ist das ein Anlass, um unsere mühevoll aufgebaute Beziehung hinzuwerfen? Habe ich mich wirklich so sehr von meinen Gefühlen leiten lassen, dass ich meiner Adoptivfamilie nun nicht mehr in die Augen sehen kann ohne, dass meine Schuld mich auffrisst? Das ist genau das, was mich unruhig auf dem Stuhl hin und her rutschen lässt. Seit Matt und Chris vor zehn Minuten mit ihren Eltern, bewaffnet mit Blumen und Kuchen, durch die Tür spaziert sind, habe ich ihnen kein einziges Mal in die Augen gesehen. Dafür schäme ich mich zu sehr. Dennoch will ich mir nicht die Annahme nehmen lassen, dass wir alle drei Fehler gemacht haben, die uns hierher gebracht haben, wo wir nun sind. Keiner von uns trägt die alleinige Verantwortung, aber darüber müssen wir erst einmal reden.

„Schön habt ihr es hier", schwärmt Olivia zum wiederholten Mal an diesem Nachmittag. Ich nehme an, um die unangenehme Stille zu füllen, die in der Luft geradezu greifbar ist. Während Amber und ich die vier durch die Wohnung geführt haben, hat sich Pamela auf die Toilette entschuldigt und ist seither nicht mehr zu uns gestoßen. „Wann steigt die Einweihungsparty? Du wolltest uns doch einladen."

„Oh, was höre ich denn da? Eine Party von der ich nichts weiß?", ruft Amber begeistert, als sie mit einem Tablett aus der Küche kommt. Sie stellt jedem von uns eine Tasse Kaffee und ein Stück von dem Kuchen an den Platz, den unser Besuch mitgebracht hat.

„Es wird keine geben", wende ich schwach ab und meide es angestrengt die zwei Jungs anzugucken, die bisher kein Wort verloren haben. Stillschweigend sitzen sie da und sehen aus, als wären sie in diesem Moment lieber überall, nur nicht hier. Mir ergeht es nicht anders. Im Gegensatz zu Chris, der mehr arrogant dreinblickt, wirkt Matthew deprimiert. Mein schlechtes Gewissen wächst bei diesem Anblick noch mehr.

„Dabei haben sich die Jungs so sehr darauf gefreut!", verkündet Christian und lässt seine Söhne plötzlich irritiert hochschrecken. Ein Indiz darauf, dass seine Worte eine Lüge sind.

„Da wette ich drauf", murmele ich kaum hörbar und bin erleichtert, dass sie es nicht mitbekommen haben.

„Oh yes, ich habe mich sehr gefreut", schnaubt Chris verächtlich und wendet sich mit verschränkten Armen beleidigt ab wie ein Kleinkind.

Olivia macht den Mund auf, um etwas zu sagen, schließt ihn aber wieder, als Christian eine abwerfende Bewegung macht. Stattdessen legt er seinem Sohn eine Hand auf die Schulter und blickt entschuldigend in die Runde. „Ich weiß nicht, was zwischen euch vorgefallen ist, aber so kann das nicht weitergehen. Denkt ihr, wir sind blöd und bemerken die dicke Luft zwischen euch nicht? Ich habe euch beide hierher gedrängt, damit ihr euch endlich vertragt!" Gegen Ende seiner kurzen Ansprache wird mein Adoptivvater lauter. „Was ist aus euch geworden? Vor ein paar Jahren habt ihr mich noch angefleht, dass ich euch zusammenziehen lasse und heute könnt ihr nicht mal gemeinsam an einem Tisch sitzen? Pamela wollte nur auf die Toilette und ist immer noch nicht zurück und Rose kann nicht mal den Kopf heben. Was genau habt ihr zwei verbrochen, dass die Mädels sogar so weit gegangen sind, auszuziehen?"

Blue Rose - Band 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt