24 - Deine Zeit

58 8 1
                                    

Sonntag, 18.10.2020

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so nervös gewesen bin. Man sollte annehmen, dass nach all dem, was zwischen Jordan und mir vorgefallen ist, die Grenze der Hemmungen längst verschwommen sein sollte. Doch nun stehe ich früh am Morgen in meinem dritten Outfit vor dem Spiegel und beäuge skeptisch mein Erscheinungsbild. Seit sechs Tagen habe ich ihn nicht mehr gesehen, weil die Arbeit seine gesamte Freizeit und Energie konsumiert hat. Dennoch haben wir regelmäßig SMS miteinander geschrieben, wie in alten Tagen. Wie mit Blue Rose. Der Gedanke daran und an seinen Brief zaubert mir ein glückliches Lächeln ins Gesicht. Zwar habe ich mich bei ihm bedankt, indem ich ihn aufgelöst und mit Tränen in den Augen angerufen habe, allerdings erscheint es mir nicht ausreichend. Und ich denke, dass ich ihm nie genug für das geben kann, was er mir bietet. Aber ich will es versuchen.

Neugierig, warum Jordan den heutigen und morgigen Tag mit mir verbringen will, habe ich mich an seinen Bruder gewendet, da aus ihm selbst nichts herauszubekommen ist. Nicolas hat herzhaft gelacht und mich darüber informiert, dass Jordan morgen Geburtstag hat und extra die ganze Woche schuftet, damit er sich einen freien Tag genehmigen kann. Ich fühle mich schlecht, weil ich es nicht gewusst habe, aber noch schlechter, weil er es mir nicht selbst erzählt hat. Dazu kommt, dass ich keinen Schimmer gehabt habe, was ich ihm schenken könnte und auch Nicolas ist keine große Hilfe gewesen. „Er ist dein Freund, das musst du doch wissen", hat er neckend gesagt. Also habe ich eine Liste mit all den Dingen angefertigt, von denen ich weiß, dass er sie mag. Sonderlich viel ist nicht zusammen gekommen, doch schließlich habe ich den Einfall gehabt, dass materielles ihm nicht so viel bedeutet wie immaterielles. Schlussendlich habe ich etwas besorgt, von dem ich sicher bin, dass es ihm eine Freude bereiten wird. Es ist nicht nur ein Geschenk zu seinem dreißigsten Geburtstag, sondern vor allem ein Dank für seinen letzten Brief und seine Gefühle.

Meine Gedanken schweifen panisch wieder zu meinem Outfit ab, als mein neues Handy plötzlich klingelt.

„Ja?", schnaufe ich in den Hörer und fahre unruhig mit der Hand durch mein kurzes Haar.

„Ich bin in zwei Minuten da", flötet Jordan fröhlich an mein Ohr. „Bist du fertig?"

„Na ja...", stammele ich unsicher. „Du hast mir nicht gesagt, wo wir hingehen, deswegen weiß ich nicht, was ich anziehen soll."

Ich höre sein Schmunzeln in seinen nächsten Worten. „Nicolas hat mich dazu überredet, dass wir den Abend mit ihm und ein paar Freunden verbringen, deswegen zieh dir etwas Gemütliches an. Oder nein, vergiss es. Ich bin jetzt da. Komm einfach in dem runter, was du anhast." Als wüsste er ganz genau, dass ich protestieren werde, beendet er ohne Weiteres das Telefonat. Atemlos fluche ich vor mich hin und betrachte meine Erscheinung erneut im langen Spiegel. Abermals hat mich das Bedürfnis gepackt, ihm gefallen zu wollen, weswegen ich mir etwas mehr Mühe mit meinem Äußeren gegeben habe. Ich selbst bin zufrieden, doch die Unsicherheit, dass er es nicht so sieht, nagt fürchterlich an mir. Viel zu lange starre ich auf meinen schwarzen Bleistiftrock, der zu kurz für das Büro aber zu lang für den Alltag ist. Der schwarze durchsichtige aber dicke Stoff meiner Strumpfhose hält meine kurzen Beine warm und verleiht ihnen etwas Länge. Zumindest rede ich mir das ein. Kombiniert habe ich das ganze mit einem blauen Pullover mit V-Ausschnitt, sodass es nicht zu verschlossen aber auch nicht zu gewagt aussieht. Je länger ich mich ansehe, desto kritischer wird mein Blick und desto ungeduldiger wird Jordan. Plötzlich ertönt das Hupen eines Autos draußen und ich weiß sofort, was er mir damit sagen will. Fluchend ziehe ich mir einen schwarzen knielangen Mantel an, schultere meine Handtasche und nehme mein eingepacktes Geschenk für ihn in die Hand. Schnell schlüpfe ich noch in meine Stiefel und sprinte die Treppen nach draußen herunter.

Mir stockt im wahrsten Sinne des Wortes der Atem, als ich ihn erblicke und in der Haustür stehenbleibe. Lässig lehnt er an seinem Auto und beäugt mich genauso neugierig wie ich ihn. Sein Blick gleitet meinen Körper auf und ab und ich meine zu erkennen, wie sich seine Augen etwas weiten, ehe er beginnt zu strahlen. Ich löse mich aus meiner Starre und laufe direkt auf ihn zu, darauf bedacht, unter seinem intensiven Blick nicht zu stolpern. Je näher ich ihm komme, desto größer wird sein Grinsen. Kurz glaube ich, dass er sich über mich lustig macht, doch dann bemerke auch ich, was ihn so amüsiert. Auch er ist, bis auf seinen blauen Rollkragenpullover, komplett in Schwarz gekleidet.

Blue Rose - Band 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt