|6-nebel|

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Der nächste Tag ist ein Freitag, doch zu meiner Enttäuschung treffe ich Tomke nicht wie letzte Woche an der Ampel. Stattdessen radle ich allein nach Hause, in Gedanken an die kommende Abgaben für die Uni. Bis nächsten Donnerstag muss ich die erste Klausurvorleistung fertig haben und auch in den beiden darauffolgenden Wochen stehen Abgaben an.

Trotzdem verbringe ich den freien Nachmittag bei Herrmann im Buchladen. Wenn gerade kein Kunde da ist, tauschen wir uns lebhaft über das von mir zuletzt gelesene Buch aus, woran ich wirklich viel Spaß habe. „Das habe ich auch gedacht!", freue ich mich, als der ältere Herr mir seine Theorie über ein ungelüftetes Geheimnis innerhalb eines Buchs mitgeteilt hat. Er lächelt mich lieb an, indessen ich unseren Gedanken noch fortführe. Wie so oft bewirkt dieser Gesichtsausdruck, dass ich mich in seinem Buchladen mehr als gut aufgehoben fühle, weshalb ich unbeschwert Ewigkeiten mit ihm diskutieren kann.

Außerdem besorge ich für meinen Bruder, welcher morgen Geburtstag hat, noch ein Buch. Sicherlich würde er sich mehr über irgendwelche Gutscheine für ein Videospiel freuen, doch da habe ich nun mal keine Ahnung von. Ich weiß jetzt schon, dass mein Geschenk das uncoolste sein wird, doch etwas Besseres fällt mir eben nicht ein. Im Gegensatz zu Thorbjörn bin ich wirklich alles andere als cool.

Am Samstag liegt all die Aufmerksamkeit auf meinem nun siebzehnjährigen Bruder, sodass ich mich noch viel unwichtiger fühle als sonst. Tatsächlich würdigt er meinem Geschenk kaum eines Blickes, weshalb ich nur hoffen kann, dass es nicht die nächsten Jahre in seinem Zimmer verstaubt. Vielleicht verschenkt er das Buch wenigstens weiter an eine Person, welche daran Freude hätte.

Niemandem scheint es aufzufallen, dass ich außer einem leisen „Herzlichen Glückwunsch" den Rest des Tages kein Wort mehr von mir gegeben habe. Ich fühle mich wie in Watte gepackt, irgendwie seltsam abgekapselt von meiner Umwelt. Im allgemeinen Chaos nach dem Kuchenessen verziehe ich mich in meinem Zimmer. Da keiner nach mir schaut, gehe ich davon aus, dass meine Abwesenheit nicht bemerkt wird.

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit beginnt es, draußen neblig zu werden. Ich sitze in meiner Fensterbank, ein Buch auf dem Schoß, doch mein Kopf lehnt an der Scheibe, mein Blick ist nach draußen gerichtet. Ab und zu geht jemand die Straße entlang, meist mit einer tief ins Gesicht gezogenen Kapuze, um sich vor dem diesigen Wetter zu schützen.

Doch auch sonst würden mir andere Menschen sicherlich gerade gesichtslos vorkommen. Ich kann mich weder mit dieser Spezies noch mit mir selbst identifizieren, fühle mich fremd in dieser Welt und ein wenig so, als wäre ich nur ein Hauch von Nichts. Als würde eine dicke Wand aus Nebel mich von dem Rest dieser Realität abschirmen. Ja, das passt tatsächlich ziemlich gut. Und je länger ich nach draußen starre, je dunkler es wird, je nebliger es wird, desto ruhiger werde ich.

Auch am Sonntag fühle ich mich nach wie vor, als wäre ich in einer Parallelwelt gefangen. Selbst ein Spaziergang löst diese neblige Hülle um mich herum nicht auf, sodass ich Leute ihren Mund bewegen sehe, sie aber nicht reden höre, Wind mit den Blättern spielen sehe, ihn jedoch nicht auf meiner Haut spüre, weder den Wald noch das Feld rieche.

Ich bin seltsam erleichtert, diese Ruhe zu spüren, fühle mich jedoch gleichzeitig ziemlich einsam in meiner nebligen Welt. Ich habe kein großartiges Verlangen danach, mit jemandem zu reden, aber eine Person neben mir zu haben, der ich vertraue, vor der ich mich nicht verstecken will, mit der ich mich auch am Tage gut fühle – danach sehne ich mich ein wenig. Der Gedanke daran, dass es mehr als unrealistisch ist, eine solche Person zu finden, ist mir heute irgendwie egal.

Am Nachmittag beginne ich, an meinen Abgaben zu arbeiten und stelle fest, dass ich wahrscheinlich ganz gut durchkommen werde. Ich war nie ein Studierender, der außergewöhnlich gute Noten geschrieben hat, aber auch nicht besonders schlechte. Einfach im unauffälligen Mittelfeld. So gebe ich mich mit ebenso mittelmäßigen Zensuren immer zufrieden. Außerdem geht es bei diesen Vorleistungen ja nur darum, sie zu bestehen, um zu den Klausuren zugelassen zu werden.

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