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„Habt ihr mitbekommen, dass schräg gegenüber neue Leute eingezogen sind?", erkundige ich mich möglichst beiläufig beim Abendessen. Den restlichen Tag über habe ich die beiden jungen Männer nicht mehr gesehen, doch beschäftigen tut mich vor allem der Kleinere nach wie vor. „Ach, echt?", fragt meine Mutter halbwegs interessiert nach. Ich öffne den Mund, um von meinen Beobachtungen zu berichten, doch noch bevor ich etwas sagen kann, spricht Mama weiter. „Torbjörn, bitte iss mit Messer und Gabel", weist sie meinen siebzehnjährigen Bruder zurecht. „Und jetzt erzähl mal, Tijana, wie läuft es mit deinem Referat?"

So ist es immer. Ich werde übergangen und vergessen, da meine drei jüngeren Geschwister irgendwie wichtiger sind als ich. Zumindest interessieren sich meine Eltern mehr für sie, während sie bei mir davon überzeugt sind, dass ich mein Leben schon alleine auf die Reihe bekommen werde. Immerhin bin ich der Älteste mit meinen einundzwanzig Jahren.

Meine kleine Schwester erzählt lang und breit von jedem Detail ihres Vortrags über die französische Revolution, indessen ich mich frage, ob meine Eltern überhaupt wissen, welches Fach ich studiere. Ich bin ihnen nicht böse, dass sie etwas Besseres zu tun haben, als sich um mich zu kümmern. Immerhin sind vier Kinder und zwei sechzig-Prozent-Stellen auch nicht wenig zu tun. Nach dem Essen verschwinde ich wortlos in mein Zimmer. Das Gute daran, der unsichtbare Sohn zu sein, ist, dass ich nie die Spülmaschine ein- oder ausräumen muss.

In meinem Zimmer werfe ich einen Blick nach draußen, doch da ich keine Ahnung habe, welches von den erleuchteten Fenstern zu unseren neuen Nachbarn gehört, schaue ich in meinen Kalender. Am Montag beginnt die Uni wieder und ich habe den Stundenplan für mein drittes Semester noch immer nicht im Kopf. Wie die Male zuvor stelle ich fest, dass ich morgen um neun Uhr dort sein muss, dann schnappe mir mein aktuelles Buch. Mit einem zufriedenen Seufzen lasse ich mich auf meinen weichen dunkelblauen Teppich fallen. Nicht viel später bin ich in der fremden Welt versunken. Büchern ist es egal, wer du bist. Sie sind immer einfach da.

*°*°*

„Yo", mache ich am nächsten Morgen, als ich kumpelhaft mit Jannik einschlage. Der Hellblonde ist einer meiner drei Freund:innen. Ich kenne sie schon seit der siebten Klasse, und auch, wenn wir nicht die tiefste Beziehung haben, bin ich ganz froh, sie zu haben. Da wir nach dem Abitur alle zusammen begonnen haben, Mathematik zu studieren, haben wir viele Kurse zusammen. Montags Morgens allerdings ist Zeit für ein Wahlfach, welches nur Jannik und ich gewählt haben. Also sitzen wir alleine in der dritten Reihe. Nicht besonders motiviert und wie gewohnt ziemlich müde packe ich meinen Kuli und den Collegeblock aus. Ich habe festgestellt, dass es ausreicht, einen Block für alle Kurse zu haben.

Ich habe Glück und werde nicht drangenommen. Dabei wusste ich einige Antworten sogar, doch im Mittelpunkt zu stehen ist nichts für mich. Ich kann es nicht ab, wenn mich alle anstarren und ihnen dabei wieder einmal auffällt, wie langweilig ich doch aussehe. Ich weiß genau, dass meine Mitmenschen das von mir denken, und ich kann es ihnen nicht verübeln. Immerhin denke ich von mir ganz genau so.

Es ist auch einfach die Wahrheit. Mein Kleiderschrank beinhaltet nichts weiter als drei gleiche dunkle Jeans und neben Unterwäsche und Socken nur noch einfarbige Shirts und Hoodies, welche entweder dunkelblau, dunkelgrau oder schwarz sind. Meine dunkelbraunen Haare sind glatt und standardmäßig geschnitten, meine schlammfarbenen Augen kann man hinter meiner Brille sowieso nicht richtig sehen. Ich bin ein normal gebauter Lauch und als würde mir das Universum meine Unbedeutsamkeit noch einmal unter die Nase reiben wollen, entspreche ich auch noch der deutschen Durchschnittsgröße. Exakte ein Meter Neunundsiebzigeinhalb.

Einzig und allein mein etwas zu großer Kopf und meine asymmetrischen Brustwarzen und -muskeln lassen mich etwas von der Norm abweichen. Doch da ich es nie darauf anlege, dass die Jungs in der Umkleide beim Unisport meinen freien Oberkörper sehen, fällt dies wahrscheinlich keinem auf. Falls mich überhaupt jemand wirklich wahrnimmt.

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