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Am nächsten Tag statte ich Hermann einen Besuch ab, da ich für die wenigen restlichen vorlesungsfreien Tage ein paar Bücher brauche, welche keine Liebesromane sind. Der ältere Buchhändler betrachtet mich prüfend durch seine Brille, ehe er leise seufzt. „Krimis?", schlägt er vor, woraufhin ich dankbar nicke. „Okay." Er macht eine kurze Pause, ehe er sich dazu zu entscheiden scheint, weiterzusprechen. „Denk dran, dass manche Dinge einfach Zeit brauchen. Vielleicht wird das ja auch wieder." Er nickt mir aufmunternd zu, weshalb ich ihn kurz dankbar anlächle. Noch immer geht es mir nicht ausgesprochen gut, aber ich bin froh, dass ich den Beistand einiger Menschen mittlerweile annehmen kann.

Dass auch meine Freund:innen zu diesen Menschen zählen, fällt mir am Nachmittag auf, als wir nach einem gemeinsamen Einkauf die Wohnung der Zwillinge betreten. „Ich hoffe, wir werden satt", lacht Simon und stolpert dabei beinahe über den Jutebeutel von Jannik. Celina grinst nun ebenfalls. „Also falls wir nicht noch zehn Leute einladen, sollte das mehr als reichen", schätzt sie und ich nicke mit einem Blick auf unsere vollgepackten Einkaufsbeutel.

Wir haben geplant, zusammen einen gemütlichen Spieleabend zu machen und um Mitternacht dann das Feuerwerk der Nachbarn zu betrachten. Damit der Abend so angenehm wie möglich wird, haben wir vor, uns allerlei Essen zuzubereiten.

So kommt es dazu, dass Jannik Pizzaschnecken macht, Celina und ich uns an einem Kartoffelsalat versuchen und Simon all die eingekauften Snacks in kleine Schüsseln füllt. Natürlich schneidet er sich ein wenig in den Finger, als er Äpfel und Möhren kleinschneidet, doch glücklicherweise stellen die Chips und Gummibärchen dann keine Gefahr mehr für ihn da.

Die ganze Zeit über, welche wir zusammen in der Küche verbringen, ist es in mir erstaunlich ruhig. Meine Gedanken fahren keine wilde Berg- und Talfahrt, viel eher lausche ich den Gesprächen der anderen und werfe ab und zu ein paar Worte ein. Ein Teil von mir ist noch immer traurig, da ich Tomke verloren habe, doch trotzdem genieße ich es, mich zwischen meinen Freund:innen wohler zu fühlen, als vor dem Kennenlernen meines Nachbarn. Und obwohl mich der Gedanke extrem schmerzt, muss ich mir eingestehen, wie es hilfreich für mich war, dass er mir diese Lebendigkeit gezeigt hat - auch, wenn es bedeutet, dass ich ihn nun nicht mehr in meinem Leben habe.

Die Stunden ziehen an uns vorbei, während wir Doppelkopf und Activity spielen, uns unterhalten und so viel Essen. Auch das ein oder andere alkoholische Getränk steht auf dem Tisch, doch keinem von uns ist heute danach, sich zu betrinken. Viel mehr genießen wir die Zeit zusammen und lachen uns kaputt über meinen Versuch, einen Wal zu mimen.

Gegen halb elf sind Jannik und Simon in einer tiefen mathematischen Diskussion versunken, und auch, wenn ihre Unterhaltung wirklich spannend klingt, entscheiden Celina und ich uns dazu, kurz am Fenster frische Luft zu schnappen. Obwohl die Nachtluft kalt ist, erinnert mich der leichte Schmerz in meiner Lunge und die vielen bunten Lichter über der Stadt daran, dass ich am Leben bin. Noch vor zwei Monaten hätte ich wahrscheinlich auf der Couch gesessen und einfach gewartet, bis es Mitternacht ist, ohne all die kleinen Details meiner Umwelt zu bemerken. Jetzt ist mein Herz so viel erfüllter mit all den Eindrücken und Gefühlen, sodass mir mein Leben irgendwie sinnvoller erscheint.

„Worüber denkst du nach?", erkundigt sich Celina leise neben mir. Ich drücke meine Schulter an ihre, weil ich gerade so froh bin, genau hier zu sein. „Über alles mögliche", gebe ich dann zurück. „Vor allem darüber, dass ich froh bin, dass ich mittlerweile viel mehr fühle und die Welt mehr... wahrnehme", versuche ich zu erklären. Dass es mir relativ leicht fällt, mit meiner hellblonden Freundin solch tiefe Gedanken zu teilen, bemerke ich nur am Rande.

„Das klingt wirklich krass, Theo. Und es freut mich sehr. Du siehst auch irgendwie... lebendiger aus in letzter Zeit", antwortet sie und lacht dann leise. „Also nicht, dass du vorher aussahst wie ein Zombie, aber ehrlich gesagt hast du dich manchmal ein bisschen so verhalten", murmelt sie, doch sie braucht keine Angst zu haben, mich damit zu verletzen, denn ich verstehe genau, was sie meint.

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