Bereits am nächsten Tag beginnt die Uni wieder und da sich das Semester bald dem Ende zuneigt, bin ich froh, mich konzentrieren zu können. Die Dozierenden lassen uns alle möglichen Abgaben machen und erwähnen immer wieder, wie wichtig der aktuelle Stoff für die kommenden Klausuren ist. So habe ich wenig Zeit, um mir über irgendwas Gedanken zu machen, was mir auf Tomke bezogen ganz gut tut. Allerdings verliere ich auch einen Teil der Aufbruchsstimmung, welche sich an Silvester in mein Herz geschlichen hatte.
Dennoch schaffe ich es endlich, meine Mitgliedschaft im Handballballverein zu kündigen. Immerhin habe ich seit Jahren keinen Spaß am Training und fühlte mich dadurch immer wieder daran erinnert, wie unwichtig ich bin. Zumindest ist die Motivation, daran zu arbeiten, diesen Gedanken für immer aus meinem Kopf zu verbannen, noch nicht abhanden gekommen. Aus diesem Grund bin ich sehr erleichtert, diese Spaßbremse aus meinem Alltag gestrichen zu haben.
Stattdessen stecke ich viel Kraft in die Uni und beginne außerdem, all meine neuen Empfindungen aufzuschreiben, weil mir das irgendwie hilft, diese zu sortieren. Schon bald scheint meine Notizapp zu unübersichtlich zu werden, weshalb ich mir bei Hermann ein kleines, dunkelblaues, leeres Heft kaufe, welches ich fortan immer mit mir herumtrage. Neben Sätzen und Worten finden auch kleine Zeichnungen ihren Weg auf die Seiten und auch, wenn ich es erst jetzt lerne, meine Gefühle auf diese Art auszudrücken, hilft es mir ungemein, mich nicht allein zu fühlen.
Denn die Einsamkeit erreicht mich doch immer wieder. Meine Freund:innen sind von der Uni zu gestresst, als dass sie tatsächlich Kapazitäten dafür hätten, nach mir zu fragen, und meiner kleinen Schwester geht es mit der Schule ähnlich. Ich nehme es sicherlich niemanden übel, zumal ich mich nicht traue, von mir aus ein Gespräch zu suchen. Zu unerfahren bin ich damit, über mein Innerstes zu sprechen.
Wann immer ich trotzdem das Bedürfnis habe, meine Gefühle zu teilen, vermisse ich Tomke besonders stark. In seiner Gegenwart habe ich mich aus irgendeinem Grund getraut, über das zu sprechen, was mich beschäftigt. Mit ihm war alles so einfach und neben ihm fühlte ich mich sicher und geborgen. Es fällt mir sogar schwerer, mich meinem Notizbuch anzuvertrauen, als die Kommunikation mit meinem hübschen Nachbarn für mich je war.
In der zweiten Januarwoche begegne ich Tomke einmal auf der Straße. Überfordert mit all den Gefühlen, welche aus mir herauszusprudeln drohen, bleibe ich in einiger Entfernung stehen. Dennoch bekomme ich mit, wie seine blauen Augen über mein Gesicht huschen, ehe er mir einmal zunickt und dann in seinem Hauseingang verschwindet.
Ich weiß nicht, was es ist, was mich so sehr zu ihm zieht, doch dieser Moment zeigt mir ein weiteres Mal, wie sehr er mir fehlt. Wie sehr er mein Leben bereichert hat mit seinem warmen Lächeln, seiner sanften Art, und seinen strahlenden Augen. Und wie groß das Loch in mir tatsächlich ist, welches er hinterlassen hat.
In der folgenden Nacht kann ich zum ersten Mal seit einigen Wochen wieder quasi gar nicht schlafen. Immer wieder spielt sich die Situation in meinem Kopf ab, bei welcher er sich von mir verabschiedet hat. Immer wieder frage ich mich, was in dem Moment falsch gelaufen ist in unserer sonst so federleichten Kommunikation. Und immer wieder wünsche ich mir, zu diesem Zeitpunkt meine Gefühle bereits realisiert zu haben, um ihm das sagen zu können, was ich wirklich für ihn empfinde.
Doch der Moment ist vorbei, die Chance verpasst. Ich kann nicht mehr ändern, was passiert ist, oder die Zeit zurückdrehen. Dennoch wünsche ich mir vor allem jetzt, wo ich allein durch die nächtliche Dunkelheit wandere, ihn und sein warmes Licht noch immer in meinem Leben zu wissen. Selbst, wenn er meine Gefühle, die über das Platonische hinaus gehen, nicht erwidert, bin ich mir sicher, dass er mir mehr positive Empfindungen schenken als vorenthalten wird.
Ich entscheide, ihn zu fragen, ob er mit mir befreundet sein will - ohne jeden Hintergedanken, sondern nur, um nicht mehr ohne ihn leben zu müssen. Doch da ich mir so unsicher bin, wie genau ich mich ausdrücken soll, damit er genau das versteht, was ich auch meine, brauche ich über zwei Wochen, um das Vorhaben in die Tat umzusetzen. Zwei Wochen, welche vollgepackt sind mit den letzten Abgaben für die Uni und dem Beginn der Lernphase für die Klausuren.

DU LIEST GERADE
nachtfalter
Genç Kurgunachtfalter - das einzig besondere an mir bist du. Mein ganzes Leben lang war ich immer der Unscheinbare. Ich entspreche in so vielen Punkten dem Durchschnitt, fühle mich normal oder noch viel eher langweilig. Ich bin weder besonders hübsch, noch sc...