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Der Oktober schleicht so dahin. Mehrmals die Woche besuche ich Herrmann und bleibe nicht selten für Stunden in seinem gemütlichen Buchladen. Ehrlicherweise bin ich ziemlich fasziniert davon, wie viel mehr ich mich mit den queeren Charakteren identifiziere, indessen ich alle lgbtqia-verwandten Bücher förmlich verschlinge. Selbst, wenn die Figuren alle selbstverständlich um einiges interessanter sind als ich, fiebere ich stärker mit ihnen mit als ich das zuvor kannte.

An einem Abend finde ich auf dem Nachhauseweg ein altes Bücherregal auf dem Sperrmüll, welches in gutem Zustand zu sein scheint. Grob entferne ich die Spinnweben, ehe ich es unter leisem Ächzen und Schnaufen nach Hause trage. Glücklicherweise sind es nur ein paar hundert Meter, doch aufgrund meiner untrainierten Arme muss ich trotzdem zwei kleine Pausen machen.

Die Treppe zu unserer Wohnung stellt noch einmal eine kleine Herausforderung dar, doch schließlich habe ich es geschafft. Glücklicherweise wohnen wir nur im ersten Stock. Stirnrunzelnd blicke ich mich in meinem Zimmer um, denn an der einen Wand steht bereits ein kleines Sofa, eine Bücherwand und mein Kleiderschrank. Da meine Matratze, der Schreibtisch und zwei weitere Regale in etwa den Rest meines Zimmers einnehmen, weiß ich zuerst überhaupt nicht, wohin mit dem neuen Möbelstück. Allerdings weist mich der große Stapel an Büchern neben meinem Bett deutlich darauf hin, dass ich mir eine Lösung einfallen lassen sollte.

Schulterzuckend trete ich in den Flur, um mir aus der Küche einen Lappen zu holen. „Willst du putzen, Theophil?", erklingt die verdutzte Stimme meiner Mutter hinter mir, als ich gerade einen kleinen Eimer mit Wasser befüllt habe. Ehe ich mich umdrehe, schnappe ich mir diesen sowie einen Lappen aus dem Fach unter dem Waschbecken. „Ich habe ein Regal aufm Sperrmüll gefunden und will es sauber machen", erkläre ich ihr. Sie legt verwirrt den Kopf schief. „Wann warst du draußen?", erkundigt sie sich verwundert.

Ich unterdrücke den Impuls, meine Augen zu verdrehen. „Eben", gebe ich knapp zurück und dränge mich an ihr vorbei, ohne hinzuzufügen, dass ich beinahe den ganzen Tag nicht da war. Scheinbar ist meine Abwesenheit beim Abendessen niemandem aufgefallen. Auch, wenn ich so etwas gewohnt bin, bemerke ich einen kleinen Stich in meinem Brustkorb.

Ich bin froh, dass ich den Gedanken daran beiseite schieben kann, während ich hingebungsvoll mein neues Möbelstück säubere. Schließlich kommt mir die Idee, es neben meine Matratze zu stellen, sodass sie von zwei Seiten von der Wand und auf der anderen langen Seite zur Hälfte vom Regal begrenzt wird. Praktischerweise besteht die Rückseite aus einem durchgehenden Stück Holz, sodass man nicht durch die Bücher hindurch schauen könnte.

Eine halbe Stunde später habe ich das Regal unter einer weiteren kleinen Anstrengung an seinen auserkorenen Platz gestellt und all meine neuen queeren Bücher eingeräumt. Nun kann ich von meinem Schlafplatz aus die in regenbogenfarben sortieren Buchrücken sehen, was ein Lächeln auf mein Gesicht zaubert.

*°*°*

Im Laufe der Tage fällt mir auf, dass mein gutaussehender Nachbar an jedem Wochentag um halb neun mit dem Rad davon fährt und ich stelle mir vor, was er wohl arbeitet. Vielleicht hat er einen langweiligen Bürojob, vielleicht ist er aber auch Kindergärtner oder ein Model. Gegen die letzte Option würden zwar seine geregelten Arbeitszeiten sprechen, doch ein kleiner Teil meines Hirns verschränkt bei diesem Argument immer bockig seine Arme und schreit Er ist viel zu hübsch, um nicht zu modeln!. Zwar habe ich ihn bisher nur aus der Entfernung bewundern können, doch ich bin mir sicher, dass er mehr als qualifiziert für diesen Job wäre. Zwei Mal treffe ich ihn draußen und beide Male nicken wir uns von Weitem freundlich zu, doch ich will ihm näher kommen. Am besten so nah wie möglich.

In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag kann ich wirklich gar nicht schlafen, weshalb ich Zeit damit totgeschlagen, Übungsaufgaben zu machen. Eigentlich haben diese zwar noch über eine Woche für diese Abgabe Zeit. Allerdings ist mir irgendwann um zwei Uhr derartig langweilig, dass ich mich an den Schreibtisch setze.

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