Kapitel 1 Scham

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Kapitel 1 Scham

„Tape 1: Ich befinde mich in meinem Büro. Oder sollte ich lieber Praxis sagen? Die Universität überlässt mir diesen Raum für Forschungen meiner Doktorarbeit.

Zwei Jahre lang darf ich hier 12 Probanden betreuen und mit ihnen an meiner Leitfrage arbeiten.

Das Phänomen der Gegenübertragung: Welche Rolle spielt der Therapeut bei der Bewältigung verdrängter Gefühle?

Der Fokus meiner Arbeit liegt darin, den Moment zu erfassen, an dem der Therapeut den Inbegriff der Wunscherfüllung darstellt. Der Moment, in dem der Patient alle seine verdrängten Bedürfnisse auf den Therapeuten überträgt. Diesen Moment wahrzunehmen und die richtige Gegenübertragung zu steuern, sind zentrale Aspekte der Psychoanalyse.

12 Psychologiestudenten haben sich bereitgestellt, mit mir einen meta-therapeutischen Prozess zu durchlaufen. In Einzelsitzungen geleite ich sie mit tiefenpsychologischen Methoden in ihr Unbewusstes. Es findet nach jeder Sitzung eine Analyse statt. Dabei tauschen wir uns über unsere aufeinander gerichtete Wahrnehmung und Gefühlsregung aus.

Heute findet das erste Vorgespräch mit Lee Yeng statt. Lee ist gebürtiger Japaner, 26 Jahre alt und im Abschlussjahr. Er ist der älteste Student und der erste, der sich für meine Forschung interessiert und beworben hat", spricht Dan in sein Diktiergerät.

Der Raum ist 20 qm groß, zwar schlicht möbliert, aber hell und warm durch die zwei großen Fenster.

An einem dieser Fenster steht Dan und guckt in die Ferne.

Er ist aufgeregt und konzentriert.

Ernst und neugierig.

Sein Ehrgeiz trug schon immer Früchte.

Klassenbester, Jahrgangsbester, Abschlussbester.

Da er in der Grund- und Oberschule jeweils eine Klasse übersprungen hatte, war er immer der Jüngste. In der Universität war er der Überflieger, schloss nach nur 6 Semestern sein Psychologiestudium ab und durchlief die Weiterbildung zum Psychoanalytiker.

Auch wenn er sich nie mit den Menschen in seiner Umgebung groß befasste, wie auch bei dem sich selbst aufgelegten Lernpensum, brannte in ihm immer das Interesse am menschlichen Erleben und Verhalten. Als Perfektionist stand schon lange fest, dass er erst seine Doktorarbeit schreiben wollte, bevor er mit dem Therapieren beginnt.

Dan plant.

Er kontrolliert.

Leitet und horcht.

Bislang erforschte er nur sich selbst.

Nun will er seinen Blick nach außen richten.

Ein zaghaftes Klopfen reißt Dan aus seinen Gedanken. Er guckt auf die Uhr. 15.47 Uhr. Lee soll um 16 Uhr erscheinen.

Dan greift nach seinem Diktiergerät und spricht: „Tape 2: Vorgespräch mit Lee Yeng, 05.11.2021, 15.47 Uhr. Lee kommt 13 Minuten zu früh. Verweis auf Versagensängste. Zaghaftes Klopfen bestärkt den Eindruck."

Dan läuft überzeugt und mit leichtem Lächeln zur Tür.

Er will Lee empfangen, statt ihn einfach herein zu bitten.

Grundregel laut Theorie.

Dan öffnet die Tür und streckt Lee die Hand entgegen.

„Hallo. Du bist sicher Lee Yeng, komm doch rein", begrüßt er Lee freundlich.

Lee wendet seinen Blick von Dans Augen ab und guckt auf seine ausgestreckte Hand.

„Hi, ich komme zu früh. Die Aufregung war zu groß. Ich konnte es nicht aushalten, Sie endlich kennen zu lernen", sagt er schüchtern und reicht Dan die Hand.

Die Psychologie der LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt