Kapitel 18 Rückblick

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Kapitel 18     Rückblick

Dieckmann sitzt an Dans Bett und beobachtet Dan, die Ramen-Suppe löffeln. Jeder Bissen scheint Dan fortzuführen. Sein Gesicht ist von Schmerz und Sehnsucht erfüllt. Jeder Bissen lässt ihn erinnern und in seinem Körper für Verlangen sorgen.

Wie oft hatte Dieckmann schon Dan davon überzeugen wollen, eines der in Berlin bekanntesten asiatischen Lokale aufzusuchen. Die lange Kantstraße in Charlottenburg beherbergt zahlreiche asiatische Lebensmittelläden und delikate Restaurants. Aber Dan lehnte die Bitte seines deutschen Vaters immer ab.

Er wollte immer die Köstlichkeiten anderer Kulturen ausprobieren. Spanische, türkische, amerikanische Besonderheiten, persische, arabische, indische Aromen sollten seinem Verstand neue Welten zeigen.

Keinen Blick zurück.

Dan wollte nie einen Blick zurück werfen. Sich seiner Wurzel und seinen dazugehörigen Gefühlen hingeben.

Und Professor Dieckmann beobachtet Dan beim Essen seiner Ramen-Suppe und ist überzeugt, dass er mit Lee eine rasante Reise in seine Vergangenheit gewagt hatte, die ihn überfordert hat. Die Nähe, die Dan für Lee empfindet, die ihn hat wegrennen lassen, hat ihren Ursprung in ihrer gemeinsamen Wurzel.

Die Tragweite von Dans Gefühlen für Lee ist Dieckmann nicht klar.

Auch Dan ist die Tragweite nicht klar. Er kann das Gefühl nicht benennen. Er hat sich gerade erst eingestanden, dass er Gefühle für Lee hat. Nur welche, kann er nicht benennen.

Aber er spürt genau, dass er sich nicht mehr zur Wehr setzen wird. Dass es nichts mehr gibt, das ihn davon abhalten kann, an Lees Seite zu stehen.

Und er spürt den schreienden Drang in sich. Er will Lee an seiner Seite spüren. Ihn nie mehr missen.

Dan legt die Schüssel zur Seite. Er spürt, wie die Wärme im Magen jegliche Kraftreserven seines Körpers in Anspruch nimmt.

„Dan, du siehst erschöpft aus. Schlaf etwas. Ich bleibe und warte auf Österreichs Anruf. Mach dir keine Sorgen. Ich wecke dich sofort, wenn er anruft", ertönt Dieckmanns fürsorgliche Stimme.

Dan greift nach dem Diktiergerät, das er zum Essen kurz zur Seite gelegt hatte, und kuschelt sich wieder unter die Decke.

Seine Lieder sind so unendlich schwer.

Schwer.

Und bevor er in seine Traumwelt eindringt, hört er Dieckmann noch vor sich murren:

„Wenn ich nicht erfahre, was es mit diesem Diktiergerät auf sich hat, werde ich platzen."

Und Dieckmann hört seinen Dan endlich wieder lachen.

Dan lacht kurz auf und gibt sich der Schwere hin.

Er reist in die Welt seiner Träume. Eine Welt voll mit den Metaphern seines Unbewussten.

Dan befindet sich im Wohnzimmer seines Elternhauses. Er guckt nach unten auf seine Füße und erschrickt. Sie sind klein und fleischig. Von einem Dickerchen, das er als Kleinkind war. Gefüttert und betüttelt von seiner Mutter bis zu seinem 7. Lebensjahr. Er schaut in den Spiegel, der im Eingangsflur ihres Hauses hängt. Er ist fünf Jahre alt. Der 27 Jahre alte Dan steckt in dem Körper des 5 jährigen Dans.

Eine wellende Freude steigt in ihm auf. Er will sich im Haus umgucken, sein Zimmer besuchen, sich von seiner Mutter knuddeln lassen.

Nur hält ihn etwas davon ab. Ein ungutes Gefühl klopft an sein Bewusstsein.

Die Psychologie der LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt