Kapitel 31 Heimkehren

147 18 0
                                    

Kapitel 31   Heimkehren

Es ist 23.02 Uhr.

Dan und Lee sitzen sich satt gegenüber und lächeln.

„Das war wirklich lecker", sagt Lee und lehnt sich zurück.

Dan sieht, wie sich langsam ein Nebel in Lees Augen legt.

Lees Reise führte sie hierher und nun muss er wieder heimkehren.

„Lee, die letzte Station heute ist meine Terrasse. Ich würde sie dir gerne zeigen", sagt Dan ruhig.

Lee lächelt abwesend und Dan sieht ihm an, dass er sich gerade verliert. Seine Psyche ist soweit. Sie sucht die Zeit, die gravierenden Ereignisse zu verarbeiten.

Und Dan weiß, dass sie gemeinsam nun die Reise zurück antreten müssen. Die Zeitlosigkeit muss nun ein Ende finden.

Er will Lees Ich zur Seite stehen, wenn es sich die Zeit nimmt, zu erinnern. Die Vergangenheit vergehen lassen, um sich in der Gegenwart zu finden.

Lee fühlt sich satt. Der Druck im Bauch füllt ihn aus. Sein Körper ist warm. Er fühlt sich schwer.

Sonst war er doch so schwerelos. Schwebte lautlos im Leben.

Unsichtbar.

Nun sitzt er auf dem Boden. Ist schwer und kann nicht schweben. Er fühlt sich als ein Teil des Ganzen. Auch er unterliegt der Beschleunigung der Gravitation.

Er wird angezogen. Angezogen von der Wärme.

Er imaginiert die warme Erde unter seinen Fingern. Die Sonne hat den fruchtbaren Boden den ganzen Tag lang gewärmt. Die einzelnen Sandkörner des Lebens sind warm und kitzeln auf seiner Haut.

Und er spürt ein Licht in sich aufflackern. Es wandert mit ihm durch die Dunkelheit. Zeigt ihm den Weg. Er sieht sich fröhlich hinterherrennen. Will es für sich gewinnen. Und die Dunkelheit ist nicht so einsam wie sonst.

Plötzlich kann er sein Licht nicht mehr sehen. Er befindet sich wieder in seiner Dunkelheit. Und spürt sich in einem großen Raum. Seine Füße fühlen die warmen Sandkörner des Tages. Sie graben sich tiefer ein und lassen die Wärme in seinen Körper fließen.

Er spürt den Drang nach mehr. Er will sie berühren. Er setzt sich hin und lässt seine Finger mit geschlossenen Augen durch die Erde gleiten. Und das helle Flackern hinter seinen Augenlidern lässt ihn wieder erblicken.

Er öffnet die Augen und sieht Dan.

Er sitzt ihm gegenüber.

Lee lächelt.

Und Dan lässt derweil nicht einen Moment die Augen von Lee, während er die Rechnung bestellt und bezahlt.

Er sieht, wie Lee mit dem Blick auf dem Tisch abdriftet.

Und während die Kellnerin beim Kassieren unaufhörlich redet, bleibt Dans Herz stehen, als er sieht, wie Lee langsam den Kopf hebt und ihn anlächelt.

Sein Lächeln rührt Dan. Berührt ihn. Umfasst alles in ihm.

Löst in ihm die mütterlichen Superlative der Fürsorge aus.

Er will ihn beschützen. Das war einfach zu viel. Es ist höchste Zeit heimzukehren.

Und Dan greift nach Lees Hand und seiner Schulter, geleitet ihn raus. Führt ihn den Weg lang. Setzt ihn ins Auto und verweilt vor seinem Gesicht, bevor er ihn gleich anschnallt.

Lee lehnt seinen Kopf zurück und schläft ein.

Friedlich.

Dan lässt sich von Lees friedlichem Anblick beruhigen.

„Ich bringe dich nach Hause", flüstert er und küsst Lee auf die Wange.

Die Stille im Auto lässt Dan auch seine Zeit.

Er fühlt sich stark. Und in freudiger Erwartung.

Er wird die Sonne wieder aufgehen sehen.

Er fährt am hellen Brandenburger Tor vorbei, über den dunklen Tiergarten zur freien Siegessäule. Auf dem Kreisverkehr des Ernst-Reuter-Platzes, der bunten Herberge verschiedener Fakultäten der Technischen Universität Berlin, biegt er in die alte Bismarckstraße. Bis er sich endlich am Lietzensee auf seinen gemieteten Parkplatz vor seinem Haus stellt.

Dan ist erleichtert über diese sinnvolle Investition. Parkplätze in Charlottenburg sind Mangelware.

Dan empfand die zahlreichen Strafzettel, die er vor seiner sinnvollen Investition für das falsche Parken bekam, als Spende. Eine Spende an Deutschland. Dafür, dass er hier ankommen durfte. Seinen Wissensdurst stillen durfte. Das Bildung jedem verfügbar ist.

Er ist hier angekommen.

Seine Heimat.

Auch wenn er anders aussieht. Und ihm das manchmal gezeigt wird. Er fühlt sich nicht ausgegrenzt. Die anderen sind es viel eher.

Sie sehen die Vorzüge ihrer Heimat nicht. Die Möglichkeiten. Anzukommen.

Er steigt aus dem Auto und geht zur Beifahrertür, öffnet sie.

Nimmt den fruchtigen Duft von Lees Haar wahr.

Ein Geruch, den er jetzt schon in sich eingeschlossen hat. Sich von seinen Nuancen die einzelnen Bestandteile eingeprägt hat.

Er schnallt Lee ab, dreht sich um und hockt sich hin. Er greift nach Lees Armen und führt in vorsichtig auf seinen Rücken.

Und als er sich ganz sicher ist, dass er ihn sicher trägt, richtet er sich auf und will ihn nach Hause bringen.

Heimkehren lassen.

Ihm die Heimat zeigen.

Er spürt Lees ruhigen Atem an seinem Hals und das vertraute Gefühl der Sicherheit, während er die Treppen in die 5. Etage zu seiner Dachgeschosswohnung aufsteigt.

Lees schlafender Körper liegt wie eine warme Decke auf seinem Rücken.

Jede Stufe steigt Dan mit Ruhe und bedacht.

Und fühlt sich leicht.

Leichter.

Erleichtert.

In seiner Wohnung läuft er ins Schlafzimmer und legt Lee vorsichtig ins Bett.

Er zieht ihm erst die Schuhe, dann die Jacke aus. Positioniert in bequem und deckt ihn zu.

Und als er seine Sachen weglegen möchte, fällt aus Lees Jacke sein Diktiergerät raus.

Dan hebt es auf und verliert sich in Gedanken.

Erinnert den Moment, als er sich Lees Aufnahme anhörte. Das intensive Gefühl des Verlustes. Wie er das Diktiergerät nicht mehr aus der Hand legen konnte.

Den Schmerz, als ihm klar wurde, dass er Lee zurückgelassen hatte.

Sein Traum.

Und er sieht sich auf seiner Terrasse eine Nachricht für Lee aufnehmen.

Und er hatte den Schritt schon gewagt. Ihm das Diktiergerät überlassen.

Alles kommt ihm so weit weg vor.

Er weiß nicht, wann die Reise mit Lee anfing. Spürt lediglich die Ausmaße der Erlebnisse.

In ihm haben sich so viele Erlebnisse eingebrannt.

Erleben.

Das pure Leben.

Als kennen sie sich schon ein Leben lang.

Und das Leben wird ihnen noch mehr geben.

Er hält kurz inne und steckt schließlich das Diktiergerät in die Schublade seines Beistelltisches. Die Zeit wird noch kommen. Lee wird seine Aufnahme noch bekommen.

Er wirft einen Blick auf den regungslosen Lee und atmet frei.

Eine heiße Dusche.

Endlich daheim.

Die Psychologie der LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt