Kapitel 36 Zerrissen

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Kapitel 36    Zerrissen

Es ist der 17.11.2021, Sonntag.

Um 14.11 Uhr sitzen Lee und Dan im Auto, nachdem sie sich von Professor Österreich und Professor Dieckmann verabschiedet haben.

Dan sitzt auf dem Fahrersitz seines Toyotas, das noch immer auf dem Parkplatz in der Potsdamer Straße in Schöneberg steht.

Und er weiß nicht, was er machen soll.

Der Elektromotor seines Hybrids ist nicht hörbar. So wird die Stille im Auto nicht einmal von dem wartenden Motor gestört.

Lee sitzt auf dem Beifahrersitz und guckt auf seine Hände.

Er spürt Dans Verunsicherung und möchte ihn zu gerne berühren.

Seine Hände sind wieder kalt. Er würde so gerne sich der Wärme seines Kameraden hingeben. Aber er schafft es nicht, über seinen Schatten zu springen.

Er will nicht gesehen werden.

„Soll ich dich nach Hause fahren?", ertönt Dans tiefe Stimme mit traurigem Klang.

Lee spürt einen stechenden Schmerz im Körper.

„Hast du noch was vor?", fragt Lee vorsichtig.

Er will sich nicht verabschieden müssen. Auch wenn sie sich morgen um 10 Uhr wieder sehen, ihre erste Sitzung als Analyseteam haben werden, für heute reicht ihm es nicht. Er will mehr Zeit mit Dan verbringen.

Dan denkt an die letzten Worte, die ihm sein deutscher Vater beim Verabschieden zuflüsterte: „Dan, du musst mit Lee reden. Ihr müsst miteinander sprechen. Einander erklären, wie ihr zu einander steht."

Er horcht in sich rein und schmeckt den traurigen Geschmack seiner Verletzung.

Lee hat ihn zurückgestoßen. Zumindest hat sich das so angefühlt.

Auch wenn er jetzt nur seine Ruhe haben will. Nur für sich sein will. Sich nach seiner innere Balance auf seiner Terrasse sehnt. Vielleicht sollte er Lee die Möglichkeit geben, sich zu seiner Wahrnehmung zu äußern. Er wird aber sicher nicht den ersten Schritt machen.

„Ich habe nichts vor", antwortet Dan kurz.

Lee spürt ein Kribbeln im Bauch. Er wird es ihm zeigen. Zeigen, wie sehr er ihn will. Nur weil er seine Gefühle für ihn nicht der Welt zeigen möchte, heißt das nicht, dass er keine hat. Er wird es ihm beweisen.

„Hast du dann vielleicht noch Lust, mit mir in den Plötzensee-Park zu gehen? Noch ist es hell. Ich würde dir so gerne die alten Bäume zeigen. Sie beruhigen jede flimmernde Seele", sagt Lee zaghaft.

Und Dan spürt sein Herz flimmern. Er stellt sich vor, wie er mit Lee unter einem großen, alten Baum steht. Wie sie sich umarmen und er wieder leichter atmen kann.

„Gerne", antwortet Dan und fährt endlich los.

Und während der Fahrt, die wieder durch das grüne Herz Berlins, den Tiergarten führt, durch Moabit dann in Wedding mündet, sind beide in tiefe Gedanken versunken.

Lee fantasiert, wie es nur sie beide auf der Welt gibt.

Keine anderen Augen, die sich an Dans Anblick vergehen, keine neugierigen Blicke, die ihre Anziehung zueinander verurteilen.

Nur er und Dan.

Und er könnte sich endlich frei fühlen.

Er würde alles dafür geben, mit Dan frei zu sein. Keinen unausgesprochenen Regeln und Normen ausgesetzt zu sein. Er will ihn frei berühren. Seine Hand auf der Straße halten können. Ihn küssen, wann auch immer ihm danach ist.

Die Psychologie der LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt