Kapitel 26 Ich

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Kapitel 26    Ich

Während Dan sich die komplette Suppe von Lee füttern lässt und ihn dann schließlich bis zum letzten Löffel füttert, bleibt Lee Kind.

Er genießt in vollsten Zügen den Prozess der gegenseitigen Fütterung.

Mit liebevollen und fürsorglichen Augen guckt er Dan an, während er ihm den nächsten Löffel vor dem Mund hält. Und sein Freudestrahlen, wenn Dan ihm Eingang gewährt, rührt Dan.

Als wolle er ihm seine Liebe einverleiben.

Die ursprünglichste Form des Grundbedürfnisses ist Hunger.

Alle Grundbedürfnisse münden in derselben Ausdrucksform.

Hunger.

Der Drang, gestillt zu werden.

Und die Liebe einer Mutter stillt den Hunger des Säuglings.

In allen in uns von Geburt an angeborenen Facetten.

Angst will getröstet sein.

Wut will gehört werden.

Liebe will erfahren werden.

Actio, Reactio.

Hunger spüren und wissen, dass er gesehen wird, gehört wird.

Den Hunger anderer sehen und stillen.

In allen Kulturen wird das Einverleiben von Speisen in Zeremonien gefeiert. Essen heißt befriedigen. Einander zeigen, dass man befriedigt wurde.

Ein starkes Ich kann sich in diesem Kreislauf des Gebens und Nehmens entwickeln.

Der ungestillte Hunger verweilt und wird als Wertlosigkeit gespeichert.

Ich bin es nicht wert, geliebt zu werden.

Ich bin es nicht wert, meine Liebe zu schenken.

Ein stagnierter Hunger, der ohne Erwartungen bleibt.

Der es nicht wert ist, gestillt zu werden.

Und Dan sieht, wie Lee mit jedem Löffel, seinen eigenen Wert erhöht.

Jeden Bissen schluckt Dan mit Wonne und dankbaren Augen herunter. Er stöhnt und seufzt vor geschmacklicher Begeisterung. Bei jedem Bissen überlegt er sich ein neues Geräusch, das Lee davon überzeugen soll, wie köstlich seine selbst zubereitete Speise ist. Wie sehr er jeden Bissen genießt. Wie dankbar er ist, dass es ihn gibt.

In der Küche hört man Lee laut lachen und glucksen und Dans tiefe Stimme:

„Mhmmmm!", oder , „Woooow!", oder, „Oh mein Gott!", „Uhhhhhhh!", oder „Mega!", oder, „Nein, das gibt es doch nicht, dass hast du selbst gekocht? Köstlich! Mhmmmm!", oder, „Wahnsinn, Lee, Wahnsinn!", oder „Ahhhh!"

Dan genießt das fröhliche Gelächter Lees. Seine Augen zittern glasig, während er seine Erleichterung herauslacht.

Und als Dan dann an der Reihe ist, kehrt eine Ruhe ein.

Dan sieht, wie Lee bei jedem ihn fütternden Löffel sich geliebt fühlt.

Der tiefe Blick Dans dringt in Lee ein und tröstet ihn, während er jeden Bissen einvernimmt.

Lees plötzlich entstandener Kloß im Hals erschwert ihm das Schlucken.

Dan sieht den traurigen Wandel in Lees Augen und versteht, dass es leichter ist zu geben, als zu nehmen.

Lee muss sich noch dafür öffnen, geliebt zu werden.

Und so nimmt er mit seiner freien Hand Lees. Er hält Lees wie immer kalte Hand in seiner und drückt sie.

Bei jedem Bissen streicht er über seine Hand. Wärmt sie. Zieht sie zu seinem Mund, um sie zu küssen. Seine Wange auf ihr ruhen zu lassen. Sie in seiner Faust verschwinden zu lassen. Sie an sein Herz zu drücken.

Lees Hand in Dans.

Lee spürt Dans Wärme und lässt sich von ihr wiegen.

Er nimmt jeden Löffel Suppe auf und lässt sich von ihrer Wärme einnehmen.

Der Kloß öffnet sich. Die Wärme zieht ein.

Ein warmer Schauer heilender Liebe umhüllt Lee.

Und Lee lässt es zu.

Er ist es wert geliebt zu werden.

Er lässt es zu.

Sein Ich ist wieder bereit, zu existieren.

Gewillt zu kämpfen.

Sich durchzusetzen.

Seine eigenen Entscheidungen zu treffen.

Zu lieben und geliebt zu werden.

Die mit Liebe durchgeführte Fütterungszeremonie endet und sie sitzen sich lächelnd gegenüber.

Dan fühlt sich beflügelt. Er spürt die Liebe einer Mutter in sich schweben.

All seine Liebe ist auf Lee gerichtet. Bedingungslos. Von Lee übertragen.

„Wollen wir etwas spazieren gehen? Vielleicht zum Plötzensee-Park?", fragt Dan in der Hoffnung, Erinnertes in Lees Bewusstsein zu wecken.

Lee nickt. Lächelt. Und nickt wieder.

Sie stehen auf und machen sich fertig.

Dan macht die Stille etwas unruhig.

Er sorgt sich um Lee.

Es könnte aber auch sein, dass Lee die Zeremonie auf sich wirken lässt. Er verhält sich gerade unauffällig.

Sie ziehen sich die Jacken an und als sie die Eingangstür öffnen, fällt Lee noch was auf.

„Dan, dein Diktiergerät liegt noch auf dem Fensterbrett in der Küche. Soll ich es einpacken?", fragt Lee und läuft in die Küche.

Dans Herz setzt einen Schlag aus. Sein Bauch kribbelt. Seine Wangen erröten.

„Das ist nett von dir, danke, Lee!", hört er sich sagen.

Lee steht plötzlich vor ihm.

„Schleim nicht so, Nacktschnecke. Ich will nicht ausrutschen", kichert Lee.

Und Dans glasige Augen bewundern Lees in Runzeln liegende Nase, die hochgezogenen Augenbrauen, den zusammengepressten Mund und das stille Schaukeln beim Kichern.

Dans Herz rast inzwischen. Sein Blut fließt mit athletischer Höchstleistung.

„Schön, dass die Schildkröte ihr Häuschen verlassen hat", sagt Dan tief und läuft mit Lee die Treppen runter.

Die Psychologie der LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt