Kapitel 9 Flimmern

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Kapitel 9   Flimmern

Lee ist bereits seit 12 Uhr an der Brücke gegenüber des Berliner Doms und schaut der Spree beim winterlichen Fließen zu.

Die Sonnenstrahlen an dem kalten Wintertag flimmern an der Wasseroberfläche des Kanals.

Nach der Vorlesung beschloss er, nicht in die Bibliothek zu gehen. Seine Aufregung ließe eh keine Konzentration zu.

Viel lieber wollte er sich von der historischen Umgebung der Humboldt-Universität inspirieren lassen.

Er ist fest entschlossen, Dan heute den Plötzensee zu zeigen. Dieser Badesee schließt an einem sehr großen Park an. Er recherchiert etwas, um Dan über die historischen und ökologischen Besonderheiten des Plötzensee-Parks informieren zu können.

Und der Park befindet sich unmittelbar in der Nähe von Lees Wohnung.

'Es könnte ja sein, dass wir nach dem Analysegespräch im Park noch Hunger haben', dachte sich Lee und kaufte gestern sicherheitshalber alle Lebensmittel für eine Ramen Suppe.

Und so steht er am Mittwoch um 13 Uhr noch auf der Brücke.

Von der kalten Luft sind seine Wangen rot. Seine kalten Finger hat er sich zwischen die Achseln gedrückt. Sein dicker Schal umschließt seinen Hals bis über die Ohren. Sein Kopf verkriecht sich in den Schal und lehnt auf seine verschränkten Arme.

Die Kälte der Umgebung kühlt die inneren heißgelaufenen Gedanken.

Er fantasiert den Spaziergang. Die Gespräche. Die Momente.

Und er genießt das Gefühl der innerlichen Wärme.

Ein neues Gefühl, das er nie kannte.

Derweil führt Dan die erste Sitzung mit Nadine durch.

Eine athletische junge Frau, die Dan mit den Augen verschlingt.

Als sie von seinem Forschungsvorhaben erfuhr, schrie sie wie ein Teeny-Girl und bewarb sich umgehend. Sie ist schlicht und kommt immer gerade so durch die Prüfungen. Schon immer.

Und diese Studentin sitzt Dan gegenüber und erzählt in einem Dans Meinung nach viel zu schnellem Tempo ihre Lebensgeschichte.

Wie sie in einem Dorf in Brandenburg aufgewachsen ist. In den Sven aus der Parallelklasse verliebt war, aber daraus nichts wurde. Ihre Eltern immer liebevoll waren. Der Umzug nach Berlin ihr schwerfiel. Der Kulturschock für sie besonders schlimm war. Hier seien ja so viele Ausländer. Berlin sei ja so bunt.

Und Nadine lacht immer wieder plötzlich laut auf.

Und völlig aus dem Zusammenhang heraus macht sie Dan Komplimente.

Seine Hose sei schön.

Ein Kichern.

Er habe so große Augen.

Ein Augenaufschlag.

Und Dan sitzt seiner Probandin gegenüber und strengt sich an, nicht genervt zu wirken.

Er strengt sich an.

Kann es aber nicht ändern.

Ein Therapeut muss sich auch dem Gewusel der Oberflächlichkeit hingeben.

Auf einen besonderen Punkt im Gewusel lauern.

Aber er sieht es einfach nicht ein.

Er akzeptiert es.

Er will einfach nicht.

Seine Laune ließ heute eh zu wünschen übrig.

Er hatte eine unruhige Nacht.

Von Träumen geplagt, die er am Morgen zwar nicht erinnern konnte, aber sie sein Inneres quälen spürte.

Und so fühlt er sich innerlich aufgewühlt und erwischt sich während der Sitzung immer wieder dabei, wie er gedanklich abschweift.

Während er Nadine beim Sprechen zuschaut, hört er die Stimme in sich, die ihn fragt, warum er heute früh seinen Kaffee nicht auf der Terrasse getrunken hat.

Warum es ihm so schwerfällt, seine innere Balance wiederzufinden.

Warum sein Körper biochemische Reaktionen aufweist.

Sein Magen kribbelt in regelmäßigen Abständen.

Ein erhöhter Herzschlag geht einher.

Gleichzeitig spürt er eine Unruhe.

Als habe er sich infiziert.

Etwas arbeitet in ihm und sein Abwehrsystem versucht gegenzuhalten.

Und er kann nichts machen.

Fühlt sich fremdgesteuert.

Kontrollverlust.

Und das macht ihn wütend.

Dan wendet seinen Blick von der lautlos gestellten, plappernden Nadine ab und guckt auf die Uhr über der Tür.

13 Uhr.

Die Sitzung ist geschafft.

Und er wird im folgenden Analysegespräch endlich zum Sprechen kommen.

Und ihr offen darlegen, wie es ihm ergangen ist in der Sitzung.

„Nadine, die heutige Sitzung ist beendet", unterbricht Dan Nadines Redefluss, „Für das Analysegespräch werden wir die Praxis verlassen und die Aufnahme draußen beim Laufen durchführen."

Nadines Augen leuchten auf.

„Wir gehen gemeinsam spazieren?", fragt sie aufgeregt und denkt an

die neidischen Blicke der anderen Studentinnen, wenn sie sie mit Dan Rin sehen.

Sie holt aus ihrer Tasche einen kleinen Spiegel heraus und zieht ihre schmalen Lippen mit einem Lippenstift nach.

Dan holt derweil seine Jacke und läuft auf die Tür zu. Er ist erleichtert, dass die Sitzung überstanden ist und vermerkt innerlich, dass er das gleich Nadine mitteilen muss. Vielleicht wird sie der Schock seines Erlebens ja dazu bringen, die Oberfläche zu durchbrechen und tiefere Gedanken zu beweisen.

Sie verlassen die Universität und befinden sich direkt auf dem großen Vorplatz zu den zahlreichen historischen Gebäuden der Umgebung.

Der imposante Berliner Dom ist für Dan immer der erste Anblick, den er sich genehmigt. Danach schweift er über zu dem Kanal, der quer durch Berlin fließt.

Die Brücke über der Spree wird stets lebhaft besucht.

Und Dan sieht aus der Ferne zwischen den vielen Menschen, Touristen, Studenten, Berliner, eine schwarze Gestalt stehen.

Ein in Schwarz Gekleideter, still Stehender.

Umgeben von Bewegung und Leben.

Dans Augen verharren auf ihn.

Ein schwarzer Ruhepol für seine flimmernde Seele.

Er spürt, wie sich alle seine Haare aufrichten.

Eine warme Welle überrollt ihn und bringt ihn zum Lächeln.

Zum ersten Mal an diesem Tag.

„Brrrr, es ist so kalt. Willst du mir nicht deine Jacke umlegen?", reißt ihn Nadine aus seiner Trance und zerrt an seinem Ärmel.

Dan zieht die Augenbrauen hoch, schüttelt Nadines Hände ab und schaltet sein Diktiergerät an.

Die Psychologie der LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt